Unter Denkmalschutz

MILIEU Früher war es so: Kohl, Kanther, CDU – konservativ. Heute reden selbst einstige Hardliner so glatt geschliffen wie Kanzlerin Merkel und wollen die Quote. Auf der Suche nach einer politischen Identität, die keine Kontur mehr hat

VON STEFAN REINECKE

Stefan Riebel tut an diesem Morgen im Juli etwas, was sein Großvater vor Jahrzehnten schon genau so getan hat. An einem Ort, an dem fast alles so ist, wie es immer schon war. Das kleine Boot gleitet durchs Schilf am Rand des Bodensees. „Da ist ein Barsch“, sagt er. Das Wasser ist dunkel, man erkennt keinen Barsch. Aber Riebel, Baseballcap und Gummihose, sieht den Fisch. Er dreht kurz den Außenbordmotor hoch, der Barsch springt aus dem Wasser. Jahrzehntelange Erfahrung. „Na ja“, sagt er, „ich sehe halt nicht alle Rechtschreibfehler.“

Riebel ist Mitte 50 und Fischer, wie sein Vater und Großvater. Mit dem war er schon als Kind auf dem See. Er lebt auf der Reichenau, einer fünf Kilometer langen Insel im Bodensee, die über einen Damm mit dem Festland verbunden ist. Eigentlich hat sich sein Leben nur hier, auf ein paar Quadratkilometern, abgespielt. „Morgens auf den See, mittags auf den Acker“, so war das Leben hier, sagt er. Über Jahrhunderte. Bis jetzt.

Er verzieht das Gesicht. Ein Kamberkrebs ist in der Reuse. Schwierige Spezies. Sie überträgt die Krebspest, gegen die der Kamberkrebs selbst immun ist. Es gibt im westlichen Bodensee sehr viele Kamberkrebse. Eigentlich stammen sie aus den USA. „Es ist nicht alles gut, was aus Amerika kommt, hat schon mein Großvater gesagt“, sagt Stefan Riebel.

Wer auf der Reichenau geboren ist, bleibt meist hier. In der Generation von Riebel hat man jedenfalls meist jemanden von der Reichenau geheiratet. Und keinen von auswärts, „da, wo man den Dialekt nicht kennt“. Die Reichenauer sprechen einen eigenen. Und sie gehen eher nicht in die Fremde. Aber das Fremde kommt hierher. Als Kamberkrebs. Oder mit Leuten, die Geschäfte machen wollen.

Die Reichenau ist kein gewöhnlicher Ort. Weltkulturerbe, die Kirche aus dem 9. Jahrhundert, zwei Feiertage, das Heilig-Blut-Fest und das Markusfest, die nur hier begangen werden. Wenn an der Südspitze die Sonne in einer Wolkenbank versinkt, die Berge blassblau schimmern, ist es nicht einfach, unglücklich zu sein. Ein etwas entrückter Ort. Aber auch einer, in dem man wie in einem Labor sehen kann, wie sich das Leben verändert und das, was immer war, anders wird. Ein Mikrokosmos, in dem sich die Verwandlung einer alten, unbeweglichen Agrargesellschaft in etwas Neues spiegelt. In dem sich das, was immer war, unmerklich auflöst.

Ein guter Ausgangspunkt für eine Reise auf der Suche nach einer politischen Strömung, nach einem Milieu, einem Lebensgefühl, nach dem, was geblieben ist, von denen, die wollten, dass möglichst viel bleibt, wie es ist: Was ist konservativ in Deutschland 2013?

Wie es früher war, das kommt Riebel manchmal „irreal“ vor, sagt er. In seinem Elternhaus gab es ein geheiztes Zimmer, Holzofen, einen Wohnraum für drei Generationen. Ein Fahrrad war was Besonderes. Urlaub? Die Großeltern waren mal mit dem Bus im Allgäu, mehr nicht. Jede Familie hatte ein, zwei Kühe und Land für Gemüse. Bis aus den Ställen Ferienwohnungen wurden. Riebel beliefert Restaurants mit seinem Fisch. Seit vier Jahren hat er einen viel gelobten Edelfischimbiss, sechs Angestellte. Der Sohn ist auch Fischer. Ein gutes Leben.

Jeden Morgen vor der Dämmerung fährt er raus, Reusen leeren, Netze einziehen. So wie Vater und Großvater. Das klingt romantisch, ist aber oft einfach nur ziemlich kalt. Im Winter wird auch gefischt. Riebel hat schwielige Hände.

Er ist Stadtrat und in der CDU. Der Großvater war in der Zentrumspartei, der Vater in der CDU. Er hat das irgendwie geerbt. Was ihn manchmal beunruhigt, ist das Tempo: „In den letzten dreißig Jahren wurde hier so viel gebaut wie in den tausend Jahren vorher.“ Man kann „den Wandel nicht aufhalten, aber verlangsamen.“ Es ist ein klassische Satz des moderaten Konservativismus: Man schätzt das Alte, aber stemmt sich nicht mit Macht gegen das Neue.

Es gibt allerdings oft böses Blut in der Gemeinde. Wer Bauland verkaufen darf, ist reich. Wer nicht, schaut in die Röhre. Mit Gemüse verdient man nicht so viel. Nach mancher Entscheidung im Stadtrat ist er froh, „dass es in Deutschland so strenge Waffengesetze gibt“.

Das Land war immer Hochburg der Konservativen. Weil dort die Wiederkehr des Immergleichen, die Abfolge der Jahreszeiten das Leben prägt. Im Dorf sind Verwurzelung und Tradition wichtiger als in der Großstadt, wo sich die Milieus mischen. Das Netz der sozialen Kontrolle ist auf dem Land dichter, die Familie oft noch das Norm-Lebensmodell. In den Großstädten lebt jeder Dritte in einem Singlehaushalt, auf dem Land jeder Siebte. Aber das Land ist näher an die Stadt gerückt, die Provinz ist den Metropolen ähnlicher geworden, kulturell, in Lebensstil und Wertvorstellungen.

Gut 3.000 Menschen wohnen auf der Reichenau. Es gibt mehr als vierzig Vereine, Trachtengruppe, Gesangsverein, Fanfarenzug. Vereine sind für die Konservativen, was die Gewerkschaften für die SPD waren: die Nährlösung, in der das Milieu gedeiht. Dort pflegt man Traditionen, den sozialen Zusammenhalt, das Wir in Abgrenzung zum Außen. Auf der Reichenau wählt man konservativ. Bei der Landtagswahl votierte jeder Zweite für die CDU, jeder Vierte für die Grünen, die SPD bekam 14 Prozent. Das Aufmüpfige, Himmelsstürmerische, Sozialrebellische hatte hier noch nie eine Heimat.

Aber das Neue kommt von allen Seiten. Von den Reichen, die Ferienhäuser bauen wollen, vor denen sie ihre teuren BMWs parken. Und von innen wird porös, was immer galt: der Generationenvertrag der Agrargesellschaft. Früher übergaben die Alten den Jungen den Hof gegen Kost und Logis. Jetzt, wenn die Jungen den Hof nicht mehr wollen, wird verkauft.

Keine Nostalgie. Aber je älter Riebel wird, desto schärfer sieht er die Verluste. An Gemeinsinn. „Die Zugezogenen verwässern das Leben schon“, sagt der Fischer. Es gibt weniger Gemüsebauern als früher. Und eine Quote, wie viel Fläche für den Gemüseanbau bleiben muss. „Das muss sein“, sagt Riebel. Sonst könne man „ja gleich aufs Feld gehen und den Touristen ein bisschen was vorhacken“. Er sagt das ruhig, nicht aufgeregt. Aufregung ist sowieso nichts für Fischer.

Neulich war er mal in der Kirche. Der Pastor hat gemahnt, dass die Feste, Markus und Heilig-Blut, nicht nur Show werden dürfen. Das fand er richtig. Auch ihm missfällt, dass man „Schauspiel für die Fremden macht, dass man angeschaut wird wie im Zoo“. Zu den Festen, mit Prozession und Musik, kommen Tausende. Auch Pilger, vor allem Touristen. Sein Fischgeschäft bleibt geschlossen. Sein Restaurant ist offen. Was denn sonst? Gutes Geschäft.

Riebel weiß, dass er selbst Teil des Prozesses ist, den er beklagt. Und ahnt, dass sie dabei sind, aus Tradition Folklore, aus Heimat eine Touristenattraktion, aus der Reichenau ein Freiluftmuseum zu machen. „Es geht schon etwas verloren“, sagt er.

Sie saßen in der Wagenburg – und redeten auch so

Die Reichenau ist ein spezieller Fall. Aber auch typisch. Für die traditionellen ländlichen Milieus, die sich nun verändern, auflösen. Nicht abrupt, nicht sprunghaft, sondern langsam. Der Soziologe Niklas Luhmann hat schon vor zwanzig Jahren bemerkt: „Die Gesellschaft verändert sich so schnell, dass Konservative sich nur noch als Opportunisten halten können.“

Ein Treffen mit Frau Motschmann? Die Büroleiterin in Bremen ist etwas verhalten. Wie die Tendenz des Artikels werde, was der Autor über Konservative denke? Diese Furchtsamkeit mag damit zu tun haben, dass Elisabeth Motschmann im Herbst nach Berlin gehen will, für die CDU in den Bundestag, ins Fremde, nach Jahrzehnten in Bremen. Und es hat mit ihrer Geschichte zu tun.

Elisabeth Motschmann, weiße Hose, weiße Bluse, dezente Perlenkette, schaut auf die Spree. Sie ist sechzig, hat drei erwachsene Kinder, Enkel und ist seit 41 Jahren verheiratet mit Pastor Jens Motschmann. „Man hat mich vor ihnen gewarnt“, sagt sie. Vor der taz.

Früher war sie gegen „68“, den Hedonismus, Selbstverwirklichungsideen, die Feministinnen. Sie schrieb Bücher über Mütter und Väter. Christa Meves, jahrzehntelang die Hohepriesterin der kulturkonservativen Anti-68er, notierte Ende der achtziger Jahre begeistert, dass in Motschmanns Buch „fröhlich gottgehorsame“ Frauen gezeigt werden, die glücklich „in ihrem Lebensauftrag, Mütter zu sein“ aufgehen. Elisabeth Motschmann wollte Lehrerin werden. Nach dem dritten Kind hörte sie auf zu unterrichten, das zweite Staatsexamen machte sie nicht mehr.

Jens Motschmann und andere strikt konservative Pastoren, genannt die „Motschmänner“, das war seit den siebziger Jahren bei norddeutschen Protestanten ein konservatives Bollwerk gegen alles Linke, Emanzipatorische, feministische Theologie, Hausmänner, Befreiungstheologen, Marxisten, Alternative. „Werte wie Ehrfurcht, Treue, Unterordnung, Gehorsam, Pflichtgefühl und Opferbereitschaft sind jahrelang verspottet worden.“ Das hat Jens Motschmann 1993 in einer Laudatio gesagt. So redete man in der Wagenburg. 1976 hat Pastor Motschmann ein „Rotbuch Kirche“ herausgegeben, in dem gefordert wurde, der „Augiasstall der Kirche“ müsse von „marxistischen Unrat“ gesäubert werden. Es war die Hochzeit für kulturkämpferische Konservative: Licht gegen Dunkel, Gut gegen Böse, Glaube gegen Verirrung.

Elisabeth Motschmann beteiligte sich an diesem Feldzug auf ihre Weise. Sie zog in dem rechtskonservativen Blatt Mut gegen Feministinnen zu Felde, die vom Mutterglück nichts wissen wollten. Sie ist seit 1976 in der CDU, verirrte sich mal kurz in die „Konservative Aktion“, die später vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingeordnet wurde. In der Springer-Zeitung Funkuhr gab sie als Kummerkastentante Rat in schwierigen Lebenslagen: „Meine Freundin ist lesbisch. Was soll ich tun?“ Sie stritt gegen eine Liberalisierung des Paragrafen 218 und gegen Rita Süssmuth, stellvertretend für alle, die die Union modernisieren wollten. Rechts von Jens und Elisabeth Motschmann war in der CDU nicht mehr viel Platz.

Jetzt sitzt sie unter Fotos von Helmut Kohl und Joseph Beuys. In der Kneipe Ständige Vertretung am Schiffbauerdamm, die aus Bonn nach Berlin gezogen ist. Sie hat den Ort ausgesucht, ein Fleck alte Bundesrepublik in Berlin. „Wir müssen aufgeschlossen für Neues sein“, sagt sie lächelnd. Das klingt schon nach dem rundgeschliffenen CDU-Merkel-Sprech. „Man kann Frauen nicht mehr sagen: Bleibt zu Hause.“ Wer einen Krippenplatz braucht, müsse den bekommen. „Ich habe gesehen, dass Kinder nicht nur bei sozial schwachen Eltern verwahrlosen und wie gut Kitas für Kinder sein können“, sagt sie. Männer und Frauen sollen gleichermaßen berufstätig sein können und sich um die Kinder kümmern. Die ideologische Überhöhung der Vater-Mutter-Kind-Norm-Familie zum einzig Wahren ist ihr irgendwo abhanden gekommen.

Heute sagen sie: Früher war nicht alles besser

Man kann die alten Frontverläufe noch sehen, aber die Barrikaden sind abgebaut worden. Oder einfach zerfallen. „Es war nicht früher alles besser“, sagt sie. Und: „Wir verdanken den Feministinnen einiges.“ Wie etwa die Quote. Auch sie fordert mittlerweile, dass der Staat den Großunternehmen vorschreibt, wie viele Frauen mindestens in den Vorständen sitzen müssen. Sie kann sich darüber erregen, dass Frauen noch immer zwanzig Prozent weniger Lohn bekommen, dass in Unternehmen und Rundfunkhäusern Frauen nach wie vor an gläserne Decken stoßen. „Die Feministinnen haben für die Berufstätigkeit der Frauen eine Bresche geschlagen“, sagt sie. Was sie nicht sagt ist: Sie taten das gegen Leute wie sie, Elisabeth Motschmann, die das Ideal der Hausfrau verteidigten wie eine Festung.

Die scharfe intellektuelle Selbstbeobachtung, die präzise Überprüfung der eigenen Veränderungen scheint nicht zu den besonderen Stärken von Elisabeth Motschmann zu zählen. In ihrem Selbstbild ist sie eigentlich die Gleiche geblieben. Manchmal sagt sie: „Vor zehn Jahren habe ich das anders gesehen.“ Mehr nicht.

Es hat im Kopf von Elisabeth Motschmann nie klick gemacht. Wäre ihr Leben ein Roman – es gäbe keine jähe Wendung, keine plötzliche Erkenntnis. Wichtig war, dass sie in Bremen jahrelang als Kulturstaatsrätin mit Sozialdemokraten und Grünen zu tun hatte. „Da haben sich Gegnerbilder aufgelöst“, sagt sie. Vor allem ihr Bild der Grünen hat sich verändert. Man hatte einiges gemeinsam.

Wahrscheinlich ist Alice Schwarzer weniger der CDU nähergerückt als umgekehrt. Berufstätige Frauen, feministische Pastorinnen, Quote für DAX-Konzerne, Kitas, rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen – die Konservativen haben es mehr oder weniger akzeptiert. Mal widerwillig, mal aus Einsicht, in einer Mischung aus Opportunismus und besserer Erkenntnis.

Elisabeth Motschmann ist noch immer gegen das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare, weil Kinder besser mit beiden Geschlechtern groß würden. Das ist ein bisschen reaktionär, aber ohne ideologische Verhärtung. Falls das Bundesverfassungsgericht oder die CDU das demnächst anders sieht, dann müsse sie „das akzeptieren“. Es klingt wie ein halber, vorauseilender Rückzug. Die Kulturkonservativen haben Erfahrung damit. Sie haben schon viele Stellungen geräumt. Die identitätspolitische Aufladung der Themen ist nicht völlig verschwunden, aber heruntergedimmt. Am Paragrafen 218 würde sie, wenn sie es könnte, nichts ändern.

In den neunziger Jahren schleuderte Innenminister Manfred Kanther bei einer Debatte über die doppelte Staatsangehörigkeit den CDU-Reformern um Heiner Geißler ein Glaubensbekenntnis entgegen: „Die Verfassung ist fünfzig Jahre alt. Das deutsche Volk ist tausend Jahre alt.“ Das war zehn Jahre, nachdem Helmut Kohl Gastarbeiter mit Prämien nach Hause in die Türkei schicken wollte.

Das völkisch gefärbte Denken, das Ideal der traditionellen deutschen Familie, das aggressiv Antiemanzipatorische ist in der CDU nicht ausgestorben. Aber es ist von der Mitte an den Rand gedrängt worden. Den Konservativen sind mit ihren Gegnern auch ihre Themen abhanden gekommen: Der Realsozialismus ist an sich selbst zu Grunde gegangen, die universitäre marxistische Linke längst in Rente. Die Exalternativen sind in die neobürgerliche Welt heimgekehrt. Mit Staat und Familie und den Institutionen, gleichsam Behälter der von Konservativen geschätzten Traditionen, haben sie schon lange ihren Frieden gemacht. 2013 sind es die Grünen-Wähler, die am meisten in Familien leben, nicht die Anhänger der Union.

Vor allem aber sind die meisten kulturellen Ideale der Post-68er – Selbstverwirklichung, Hedonismus, Gleichberechtigung, das Postnationale – in moderater Form Common Sense geworden und der Krieg der Kulturkonservativen gegen „68“ zu einem Kampf gegen Gespenster.

Elisabeth Motschmann, geborene Baronesse von Düsterlohe, wurde mit einem aufgeräumten Weltbild groß. Die Düsterlohes sind ein altes baltisches Adelsgeschlecht. Der Vater war Soldat in Russland und verlor dort ein Bein. 1956, als die Bundeswehr gegründet wurde, war er wieder dabei. „Soldat aus Überzeugung“, sagt sie. Liebevoll und streng nennt sie ihre Erziehung. Man hatte Werte. Die Mutter sorgte dafür, dass es vor einer Waschmaschine ein Cembalo im Haushalt gab. Die Kinder lernten Geige. Großmutter und Mutter waren Musikerinnen, als die Kinder kamen, hörten sie auf zu arbeiten. Es war ein ordentlicher Kosmos, in dem Frauen zu Hause bleiben und Männer fürs Geld und das Grundsätzliche zuständig waren.

Elisabeth Baronesse von Düsterlohe heiratete mit 19, als sie 23 war, kam das erste Kind zur Welt. „Die Familie war für mich immer das Wichtigste“, sagt sie. „Aber ich würde das heute anders machen. Nicht mehr ganz aufhören zu arbeiten wegen der Kinder, sondern die Arbeit reduzieren.“ Sie ist keine Nora, die ihr Puppenheim sprengt wie bei Ibsen. Aber sie hat sich doch ein bisschen gelöst aus dem Korsett dessen, was ihr einst als selbstverständlich galt. 2007 hat sie noch mal protestiert. Es war ein kulturkämpferisches Revival, eine Wiederaufführung. Charlotte Roche moderierte eine Talkshow, das brachte die Baronesse aus der Fassung: „Charlotte Roche hat mit Werten, die für mich wichtig sind, nichts zu tun.“ Der Roman „Feuchtgebiete“ sei ein obszöner Angriff auf das Christliche, polterte sie, protestierte beim Rundfunkrat in Bremen – vergeblich. „Ich würde das wieder machen“, sagt sie. „So spricht man nicht über Sexualität.“ Es ist ein Satz wie ein gebügelter Faltenrock. Gouvernantenhaft steif. Und irgendwie rührend altmodisch, in einer Zeit, in der in jedem Kleinstadt-Buchladen SM-Bestseller ausliegen. Elisabeth Motschmann muss jetzt mal nach draußen, vor die Tür. Eine Zigarette rauchen. Besser zwei, „eine auf Vorrat“. Es ist ja generell schwierig, rauchende Frauen unsympathisch zu finden. „Eigentlich bin ich nicht konservativ“, sagt sie.

Elisabeth Motschmann ist es nicht mehr, ein Fischer auf der Reichenau kann es kaum noch sein. Aber wer ist dann noch konservativ hierzulande?

Die Konservativen in der Union hatten mal die hochfliegende Hoffnung, dass sie den Ruch des Vermufften loswerden würden. Sie hofften, dass es einer von ihnen zum bewunderten Medienliebling bringen würde, der es sogar bis ganz oben, bis ins Kanzleramt, schaffen könnte. Es war der Traum, dass jemand all ihre Widersprüche auflösen würde. Doch Karl-Theodor zu Guttenberg entpuppte sich als Hochstapler.

„Es ist nichts mehr da. Es gibt die alten Beharrungskräfte nicht mehr, etwa den Großgrundbesitz“, sagt Alexander Gauland. Nation, Kirche, Familie, Traditionsbewusstsein – alles, worauf konservative Lebenswelten gründeten, ist fragil geworden. Gauland wohnt in der Berliner Vorstadt, in Potsdam, ein paar hundert Meter von der Glienicker Brücke, wo Ost und West früher ihre Agenten austauschten. Eine hochherrschaftliche Wohnung, spätwilhelminisch, mit marmornem Treppenhaus.

Günther Jauch wohnt um die Ecke. Das Haus ist zu einer Zeit erbaut, als das Bauhaus, die Funktionsarchitektur der Moderne, erdacht wurde, mit deren Kühle sich Konservative nie angefreundet haben. Ein komfortable Wohnung in einem Haus, das unter Denkmalschutz steht. Keine schlechte Metapher für Konservative.

Gauland sitzt mit Kordhose und Wollpulli in seinem Wohnzimmer, groß wie eine Singlewohnung, voll mit Büchern, was sonst. Kein Computer, kein Fernseher. Gauland war jahrzehntelang CDU-Mitglied. In den Achtzigern arbeitete er als Staatsekretär beim CDU-Ministerpräsidenten Walter Wallmann in Hessen, später wurde er Herausgeber der Märkischen Allgemeinen in Potsdam. Gegen das Betreuungsgeld, sagt der 72-Jährige, habe doch vor allem die Industrie agitiert. Die Wirtschaft, die weibliche Arbeitskräfte will, sei mit grün-alternativen Selbstverwirklichungsideen und linken Menschheitsbeglückern ein Bündnis eingegangen. Ein Graus. Gauland zuckt mit den Achseln.

Er ist in gesellschaftspolitischen Fragen – Frauen, Familie, Migration – verlässlich auf der Gegenseite von Roten, Grünen, Feministinnen. Aber er ist kein bitterer Ideologe. Er redet eher leise, distinguiert, mit leichter Färbung, in der die thüringische Herkunft anklingt.

Gauland ist seit 25 Jahren eine Stimme konservativer Publizistik. Er pflegt jene Melancholie in Dur, die seit jeher Grundton konservativer Intellektueller ist. Man hat das Gefühl, stets auf verlorenem Posten zu stehen, immer umringt von einem übermächtigen linksliberalen Mainstream. Man fühlt sich als Elite, und insofern auch gern etwas einsam. Das ist eine Art aristokratischer Rest der Konservativen, denen Edmund Burkes Kritik der Französischen Revolution und forscher Demokratie als Gründungstext gilt.

Gauland hat originelle Texte verfasst, auch schräg zu Parteifronten. Als der Brandenburger CDU-Rechte Jörg Schönbohm vor ein paar Jahren die Zerstörung des Bürgertums durch die DDR für allerlei Übel in Brandenburg dingfest machte, schrieb Gauland einen hellsichtigen Essay mit dem Tenor: In Preußen gab es nie ein einflussreiches Bürgertum. Es ist dieses spezielle Sensorium für geschichtliche Ablagerungen, für tradierte Erfahrungen, das Konservative auszeichnen mag.

Der ideale Konservative hat so gesehen wenig damit im Sinn, ideologische Bastionen zu verteidigen. Für ein Glanzstück konservativer Politik hält Gauland Bismarcks Sozialversicherung. Weil die das Neue nicht blockierte, sondern abfederte, moderierte, gestaltete. Margaret Thatcher hingegen, sagt er, „hat die britische Industrie zerstört und die Zurichtung der Gesellschaft auf Ökonomie befördert“. Beides passt nicht zum Konservativen. Doch die Frau, die ihn aus seiner politischen Heimat, der Union, vertrieben hat, war nicht Thatcher, sondern Angela Merkel. Die Traditionslose, Überzeugungslose.

Gaulands Leidensliste mit Angela Merkel ist lang. Erst wurde die Wehrpflicht wie ein Glaubensbekenntnis verteidigt, dann schmerzlos abgeschafft. Erst verlängerte die Kanzlerin sinnlos die Laufzeit von AKWs, dann beschloss sie hastig deren Abschaltung. Von der Frauenquote für DAX-Konzerne über die Homo-Ehe bis zum Gender Mainstreaming an Universitäten – nichts davon passt in Gaulands bürgerliches Bild. Und mit allem hat sich die CDU irgendwie arrangiert. „Die CDU vertritt in fast allen Fragen das Gleiche wie SPD und Grüne, nur etwas später“, sagt er. Die Überzeugungskerne seien ausgebrannt. Gauland orakelt: „Wenn Merkel abtritt, wird die Union wie eine leere Hülle zusammenfallen.“

Aber das Problem der Konservativen in der Union und jenseits davon ist nicht Angela Merkel oder die von ihnen mit Inbrunst verachtete Ursula von der Leyen, die die Partei an den rot-grünen Zeitgeist verraten haben. Das Problem der Konservativen ist viel schlimmer, tiefer, gravierender: Es sind sie selbst.

Im vergangenen Jahr versuchten sie sich im „Berliner Kreis“ zu einem ordentlichen Flügel in der CDU zu formieren und konnten sich noch nicht einmal auf ein Grundsatzpapier einigen. Manche waren für, manche gegen Atomkraft, Mindestlohn, Betreuungsgeld. „Es fehlte an Mut“, sagt Gauland, der dabei war. Nicht nur das. Auch die CDU-Rechte leidet unter dem Merkelsyndrom. Auch ihre Kompassnadeln zeigen in verschiedene Richtungen. Sie verbindet eigentlich nur ein leicht übellauniges, geschmäcklerisches Leiden an Merkels Mittekurs.

Die Konservativen sind in der Gesellschaft wohl überzeugungsstark und selbstbewusst, wenn sie glauben, ungestüm nach vorne drängende soziale, kulturrevolutionäre Bewegungen bremsen zu müssen. Bewegungen, die die Erziehung, Sex, Arbeit, Geschlechterverhältnisse und den Traum der Gesellschaft von sich selbst radikal verändern wollen. Aber diese Bewegungen sind Geschichte geworden.

Alexander Gauland hat im vergangenen Jahr die CDU verlassen. Er ist jetzt stellvertretender Vorsitzender der „Alternative für Deutschland“, der AfD, und hält energische Reden über das Verhängnis des Euros. Wie falsch es ist, Verträge zu brechen, weil der Euro gerettet werden muss, wie falsch es ist ist, dass Deutschland wegen des Euros Griechenland diktiert, wie viel gespart werden muss.

Ist die AfD seine neue politische Heimat? Nein, das ist ihm zu pathetisch. Die AfD ist eher ein Versuch. Er hat den Job, eine Art unabhängiges, konservatives Gewissen der Union zu spielen, gekündigt. Die Enttäuschung über die Union war größer als seine Skepsis gegenüber einer Parteigründung, die hierzulande regelmäßig im sektenhafter Trostlosigkeit enden. Der Wechsel zur AfD war eher Flucht als Aufbruch.

Die Konservativen, die die Heimat so hoch schätzten, fühlen sich selbst heimatlos.

Stefan Reinecke, 54, ist Parlamentskorrespondent der taz. Was Konservative antreibt, versteht er besser als noch vor zwanzig Jahren