Alternative Wurzeln des Bürgerlichen

Feine Unterschiede (10): Die Bürgerinitiativen reformierten das Gemeinwohl, die taz setzte urbürgerlich auf die Öffentlichkeit – in den Siebzigern kam die Neue Bürgerlichkeit also von links. Das wird heute gern vergessen, nicht nur von Konservativen

■ Gibt es sie, die viel beschworene Neue Bürgerlichkeit? Soll es sie geben? Wie fühlt sie sich an? Auf der anderen Seite: Lässt sich das Antibürgerliche wirklich noch mit Konzepten von Selbstverwirklichung verknüpfen?Eine Reihe mit Studien zum Bürgerlichen, Neo-, Alt- oder Anti-, zwischen Aufbruchstimmung und Restekel

VON JÖRG MAGENAU

Wenn altgediente Produkte mit dem Attribut „neu“ versehen werden, ist Misstrauen angebracht. Der erfahrene Konsument weiß, dass neue Waschmittel nicht unbedingt besser waschen als die alten, bloß weil sie mit Frischeformel oder als Megaperls auf den Markt kommen. Mit der Neuen Bürgerlichkeit, dem jüngste Produkt im feuilletonistischen Artikelsortiment, ist das ähnlich. Auch die Neue Bürgerlichkeit riecht irgendwie frischer als die alte, ohne dass man wüsste, warum. So war das auch schon beim Vorgängermodell, dem Neoliberalismus. Neu an der Neuen Bürgerlichkeit sind weder die viel beschworenen Werte noch die Lust am Eigentum und schon gar nicht der große Gesang von Kindern und Familie. Neu ist allenfalls der Bekenntnischarakter und der fast schon utopische Hauch, der das Bürgerliche plötzlich umgibt. Mit Schirrmacher und der apokalyptischen Angst vor dem Aussterben der Deutschen geht es schnurstracks zurück in die 50er-Jahre, als wäre durch fromme Fortpflanzungstätigkeit ein neues Wirtschaftswunder zu erzeugen. Wenn alle nur heftig genug privatisieren, dann wird sich das Allgemeinwohl schon finden. So lautet das alte wie das neue bürgerliche Glaubensbekenntnis. Schirrmacher unterlegt es mit effektvollen Untergangstrommelwirbeln. Das apokalyptische Dramatisieren, lange Zeit eine Domäne der Linken, ist damit rechts angekommen. Das zumindest ist neu.

Das Bürgertum aber lässt sich nicht neu erfinden. Es lässt sich nur neu ausdeuten und den eigenen politischen Zielen kompatibel machen. Anscheinend gibt es da gerade von konservativer Seite verstärkten Nachholbedarf. Um ausgerechnet die Familie als Keimzelle gesellschaftlichen Glückes zu verklären, muss man, bei allem, was sich über den Zustand familiärer Verhältnisse erfahren lässt, ziemlich viel Fantasie aufwenden. Weniger im Blickpunkt steht dagegen eine andere urbürgerliche Domäne: die Öffentlichkeit – und damit die Frage, wie sie beschaffen sein muss, damit sich Bürgerlichkeit überhaupt entwickeln kann. Die Anzahl der Kinder ist in einer Gesellschaft mit fünf Millionen Arbeitslosen dagegen eher zweitrangig. In Ländern wie Weißrussland oder der Ukraine können wir derzeit sehen, dass Öffentlichkeit die Voraussetzung jeder Bürgergesellschaft darstellt.

Als die taz gegründet wurde, verstand sie sich als Gegenentwurf zur so genannten bürgerlichen Presse, die sich im Herbst 1977 während der Schleyer-Entführung darauf beschränkte, in freiwilliger Zensur die offiziellen Verlautbarungen der Regierung wiederzugeben. Nach dieser Erfahrung linker Sprachlosigkeit sollte mit der taz eine „Gegenöffentlichkeit“ als Raum für unterdrückte Meldungen und Meinungen entstehen. Ihr antibürgerlicher Gestus überdeckte, dass es nicht um Gegnerschaft, sondern um die Radikalisierung bürgerlicher Prinzipien ging – zuallererst der Pressefreiheit. Die Neue Bürgerlichkeit kam von links, nur hieß sie damals Alternativbewegung. Da war den Beteiligten noch nicht klar, was heute wahrlich kein Geheimnis mehr ist: dass das grün-alternative Milieu das neue Bürgertum bildet. Man bezog sich nicht auf die 50er-Jahre, wie sie heute den Konservativen vorschweben, sondern auf republikanische Traditionen von 1848. „Zupfgeigenhansel“ lieferte als Soundtrack der Epoche das alte „Bürgerlied“, und Hannes Wader schmetterte „Trotz alledem“.

„Im Vergleich zu uns sind alle anderen gleich“ lautete ein Werbespruch der taz in den 90er-Jahren, der das alternative Selbstverständnis zum Image veredelte. Indem es zur Marke geworden war, stimmte es schon längst nicht mehr. Vermutlich war es von Anfang an ein Irrtum, „bürgerlich“ und „alternativ“ für Gegensätze zu halten. Es waren die Kinder des Bürgertums und die kleinen Geschwister der APO-Generation, die in der Alternativbewegung für eine Erneuerung bürgerlicher Werte und Politik sorgten – auch wenn sie ganz andere Ziele verfolgten. Das ökologische Denken, das sie propagierten, war zunächst noch mit marxistischer Theorie verknüpft und verstand sich als Systemalternative. Kapitalistische Ökonomie und ökologisches Handeln galten als unvereinbare Gegensätze. Dreißig Jahre später ist davon die ökologische Modernisierung der Gesellschaft mit Biodiesel, Naturprodukten und Windrädern übrig geblieben. Solaraktien boomen. Und unser Haus soll schöner werden.

Die Grünen als Anti-Parteien-Partei und die taz als Anti-Zeitungs-Zeitung waren gesellschaftspolitische Parallelaktionen, die aus den neuen sozialen Bewegungen, aus transformierten K-Gruppen, vor allem aber aus Bürgerinitiativen entstanden. Nach dem Scheitern der marxistischen Großutopien und dem Ende des Vietnamkrieges wandte man sich der Verhütung des Schlimmsten in der eigenen Nachbarschaft zu: dem AKW-Bau in Gorleben oder Wyhl oder der Stadtzerstörung durch Autobahnen wie in West-Berlin. Die BI gegen die Westtangente wurde hier zur Keimzelle der Hausbesetzerbewegung, ohne die es Kreuzberg heute wohl gar nicht mehr gäbe. Bürgerliches Engagement und das Interesse am Gemeinwohl stand im Mittelpunkt dieser Initiativen, auch wenn „bürgerlich“ dort als Schimpfwort galt.

Die taz war ein Teil dieses Milieus und kämpfte vom ersten Tag an um ihre Autonomie. Einerseits wollte die Redaktion der „Basis“ eine Stimme geben und propagierte leichtfertig das Prinzip der „Betroffenenberichterstattung“. Andererseits war klar, dass die Zeitung etwas anderes sein müsste als eine tägliche Sammlung von Flugblättern und engstirnigen Pamphleten. Dieses Spannungsfeld zwischen Autonomiebestreben, Solidarität und parteipolitischer Bindung ist jedoch keine linksalternative Besonderheit, sondern ganz typisch für bürgerliche Zeitungsgründungen. Im Kaiserreich, als von Sozialdemokraten übers Zentrum bis zu Nationalkonservativen zahlreiche Parteien mit zugehöriger Presse entstanden, war das nicht anders. Schon damals erwiesen sie die Parteien als unfähig, Anregungen von außen aufzunehmen und Kritik „ihrer“ Zeitung zu ertragen. So lösten sich die Blätter allmählich aus der Abhängigkeit und erstritten sich auch gegenüber der eigenen Klientel ihre Souveränität. Die Leserbriefe der taz, eine Chronik fortgesetzter Empörung über unsolidarische Berichterstattung, erzählen dieselbe Geschichte hundert Jahre später.

Auch die taz-eigene Aversion gegen Anzeigen gehörte zu diesem grundbürgerlichen Unabhängigkeitsstreben. Die mussten nicht von Shell oder von der Bundeswehr sein, um erbittert bekämpft zu werden. Was auch nur aussah wie eine Anzeige, war schon Verrat an den Idealen. Die taz war gerade einmal vier Tage alt, als sie erfahren musste, was in dieser Hinsicht auf sie zukommen würde. Einen Artikel mit der Überschrift „Psychopathen aller Länder, vereinigt Euch!“ hatte die Redaktion mit einer Kleinanzeige aus der B.Z. illustriert: „Charmante Frauen der Spitzenklasse verwöhnen Sie.“ Einige Leser verstanden das als bezahlte Anzeige für Prostitution und reagierten mit den üblichen Schmähreden: „Ihr habt doch wohl ein Rad ab!“ „Ich glaub, mich trifft der Schlag!“ „Antichauvinistische Grüße“. Die „Gegenöffentlichkeit“ war niemals zimperlich, aber häufig ein bisschen doof. Anzeigen und redaktionelle Beiträge auseinander zu halten musste erst noch erlernt werden. Auch darin stand die taz übrigens in der Tradition der Zeitungen des 19. Jahrhunderts.

Die frühe taz war mehr als nur eine Zeitung. Sie war ein Ort, an dem selbstbestimmtes Leben erprobt wurde. Genauso wichtig wie das entstehende Produkt war das eigenverantwortliche, basisdemokratische, hierarchiefreie Arbeiten und das Zusammenleben zwischen WG-Plenum und Redaktionskonferenz. Die taz wurde primär nicht als wirtschaftliches Unternehmen begriffen, sondern als „Projekt“. Projekte ersetzten bürgerliche Karrierevorstellungen. Sie sollten den Widerspruch zwischen Arbeit und Leben aufheben. Das, was ein Mensch im Dienst tat, und das, was er fühlte und dachte, sollte in Einklang gebracht werden. „Identität“ und „Selbsterfahrung“ waren Großbegriffe der Epoche. Das Subjekt wurde gegen entfremdetes Arbeiten wieder in sein Recht gesetzt. Der Citoyen betrat die Arbeitswelt. Die taz war das größte und wirksamste Projekt der Republik, denn sie stand als Zeitung naturgemäß unter öffentlicher Beobachtung. Sie zahlte für ihre Freiheit bekanntermaßen einen hohen Preis: kontinuierliche Krisen am Rande des Untergangs, Einheitslohn und miserable Arbeitsbedingungen.

Und doch ist die Geschichte der taz eine Geschichte der Einübung bürgerlicher Verhaltensweisen. Um eine Zeitung zu machen, sind Tugenden wie Pünktlichkeit, Disziplin, Organisation, Bildung und Entscheidungsfähigkeit unverzichtbar. In der taz glaubte man lange Zeit, sich dagegen mit Schlamperei, Arroganz, überquellenden Aschenbechern und der Kultivierung des Chaos wappnen zu können. Der Publizist Erich Kuby, 1989 in der Redaktion zu Gast, schrieb entsetzt: „Diese Reihung von Arbeitskäfigen, im rechten Winkel zueinander angelegt, lässt vermuten, die Zeitung sei gerade vierzehn Tage zuvor gegründet worden, die Redaktion befinde sich noch im Aufbau, und für die primitivste Arbeitsvoraussetzungen, zum Beispiel für eine Basisordnung in den Büros und die Müllabfuhr auf den Fluren, habe noch niemand Zeit gehabt zu sorgen. Ich habe in den sechziger Jahren einige jener ‚revolutionären‘ Wohngemeinschaften von innen kennengelernt; sie sahen just so aus wie die taz-Redaktion 1989. Es fehlen dort nur die Babys und die über der Heizung aufgehängten Windeln.“ Trotzdem entstand dort auf wundersame Weise täglich eine Tageszeitung. Das belegt, dass es wohl doch verborgene Formen von Verlässlichkeit, Pflichterfüllung und Produktorientierung gegeben haben muss. Da war die Bürgerlichkeit aber noch so neu, dass man sie noch nicht einmal zu benennen wagte.