Im tiefsten Dschungel

Die wenigen Hotels im unzugänglichen Nordosten Kambodschas gehören nicht den Dorfbewohnern. Doch wer ihre Gräber sehen, ihre Kinder fotografieren will, darf gerne einen Dollar beisteuern

von KATJA DOMBROWSKI

Ratanakiri ist dunkelgrün, mit rotem Staub bepudert. Wie ein Tannenwald, den feiner Neuschnee überzieht. Nur dass der Wald in Ratanakiri tropisch ist und der Staub rostrot und statt aus dem Himmel von der Erde stammt. Laterit. Die Provinz im nordöstlichsten Zipfel Kambodschas ist die Heimat der ethnischen Minderheiten. Neun kleine Bergvölker mit eigener Kultur und Sprache besiedeln die höchst unwegsame Provinz bis tief in den Urwald, außerdem viele Laoten und Vietnamesen.

Durch Ratanakiris Wälder führte der berüchtigte Ho-Chi-Minh-Pfad, auf dem der Vietcong im Krieg gegen die USA Waffen von Nord- nach Südvietnam transportierte. Ende 2004 sorgten vier Familien für Schlagzeilen, die sich 25 Jahre lang ohne jeglichen Kontakt zu anderen Menschen im Dschungel versteckt gehalten hatten. Die Gruppe, die in der Einsamkeit von 12 auf 34 Mitglieder anwuchs, war 1979 aus Angst vor vietnamesischen Soldaten, die damals gegen die Anhänger Pol Pots kämpften, in den Dschungel geflüchtet. Ratanakiri war eine Hochburg der Roten Khmer, viele Mitglieder der Bergvölker schlossen sich der „Revolution“ an. Dass in Kambodscha längst Frieden herrscht und eine, zumindest offiziell, demokratische Regierung, war den Waldbewohnern verborgen geblieben.

Weniger als 700 Kilometer, aber anderthalb Tagesreisen über Land von der Hauptstadt Phnom Penh entfernt, gehört Ratanakiri zu den vergessenen Dschungelprovinzen, von denen die meisten Kambodschaner wenig wissen. Für Reisende ist nur ein kleiner Teil Ratanakiris zugänglich: Dorthin zu kommen, ist eine Strapaze. Lediglich eine Straße in jede Himmelsrichtung von Banlung aus ist von Autos befahrbar – in der Regenzeit auch das mit Einschränkungen. Die Straße in Richtung Süden, nach Mondulkiri, wird „Todeshighway“ genannt.Wir nehmen lieber die Straße nach Voen Sai. Sie gilt als gut befahrbar. Trotzdem kämpft sich der Allradjeep durch metertiefe Löcher.

35 Kilometer nordwestlich und fast zwei Stunden Fahrzeit von Banlung entfernt, am Ufer des Flusses Se San, findet die Jeep-Tortur ein vorläufiges Ende. Von hier geht es auf dem Wasserweg weiter – eine um ein Vielfaches angenehmere Art der Fortbewegung. Ruhig und gleichmäßig gleitet das schmale, hölzerne Langboot mit Außenbordmotor den Se San hinauf. Der laotische Bootsführer kennt jede Sandbank, jede Stromschnelle. Am Ufer einzelne Stelzenhäuser zwischen dichter, sattgrüner Vegetation. Davor waschen Frauen Wäsche im Fluss, schrubben nackte Kinder die Rücken von Wasserbüffeln, werfen Fischer ihre Netze aus. Man könnte ewig so fahren und schauen, nur schauen, eine Hand im Wasser und den Fahrtwind im Gesicht. Für die Menschen, die hier leben, ist der Fluss alles. Er versorgt Menschen, Tiere und Felder mit Wasser, er schenkt reichlich Fisch und sogar Gold.

Heute bringt ein Wasserkraftwerk, 80 Kilometer stromaufwärts von der kambodschanischen Grenze entfernt in Vietnam gelegen, das Ökosystem aus dem Gleichgewicht. Der Yali-Damm ist seit 2000 in Betrieb. Er gehört mit einer Leistung von 720 Megawatt zu den größten Kraftwerken des energiehungrigen Nachbarn Kambodschas, in dessen Hochland der Fluss entspringt. Drei weitere Anlagen am Se San sowie eine an einem seiner Zuflüsse sind im Bau. Experten erwarten katastrophale Auswirkungen auf die Gemeinden flussabwärts. Ob die vietnamesischen Kraftwerke eines Tages auch Strom – und damit eine kleine Entschädigung – in die Dörfer jenseits der Grenze liefern werden, ist ungewiss. Bisher sehen die rund 50.000 kambodschanischen Flussanwohner in Ratanakiri und der Nachbarprovinz Stung Treng, wo sich der Se San mit dem Sre Pok verbindet und dann in den Mekong mündet, im Yali-Damm das Böse schlechthin. Sie klagen über schwankende und unvorhersehbare Wasserstände, Erosion des Ufers, Überschwemmung der Felder. Sie kämpfen mit abnehmenden Fischvorkommen, einer geringeren Goldausbeute und verschlechterter Wasserqualität.

Zumindest vom immer größer werdenden Kuchen Tourismus versuchen die Jarai und Tampuan, die Kreung, Kavet und Kachok sich ein Stückchen zu sichern. Die wenigen Hotels in Banlung gehören ihnen nicht, auch nicht die Jeeps, mit denen die Gäste in ihre Dörfer kommen. Doch wer ihre Gräber sehen, ihre Kinder fotografieren, die Geschichten ihrer Ahnen hören will, darf gerne einen Dollar beisteuern.

Noch begrüßt der Dorfälteste vom Volk der Tampuan in Kachon am Se San jeden Gast, als wäre sein Besuch eine große Ehre. Die gestopfte Pfeife balanciert er im Mundwinkel, beim Reden blitzt ein Goldzahn auf. Er nickt und lacht, bittet zum Rundgang durch das 80 Familien zählende Dorf und zeigt als Erstes seinen Sarg. Der ist traditionell aus einem einzelnen Stamm gehauen, mit blau-weißen Mustern verziert und wartet unter dem Stelzenhaus, bis seine Stunde kommt. Die Bergvölker hängen überwiegend einem animistischen Glauben an und begraben ihre Toten – anders ald die buddhistischen Khmer, bei denen die Verbrennung üblich ist. Nur wenige hundert Meter vom Dorf entfernt scheinen bunt bemalte Dächer aus Holz und Blech zwischen den Dschungelpflanzen hervor. Einfache rote und grüne Dreiecksmuster oder gelbe, schnörkelige Ornamente auf blauem Grund. Die Grabhäuser sind verziert wie kleine Tempel. Ihre Dächer krönt häufig ein langes, schlankes Boot. Lebensgroße bemalte Holzstatuen vor den Grabhäusern zeigen die Toten im Leben: Ein ehemaliger Soldat trägt Mütze und Uniform, eine Nackte mit dickem Bauch ist bei der Geburt ihres Kindes gestorben. Im Vorübergehen wirft der Führer seinem verstorbenen Vater eine brennende Zigarette ins offene Grabhaus– eine kleine Gabe, die den Aufenthalt im Jenseits versüßen soll.

Tabak spielt auch im Leben der Tampuan eine große Rolle: Frauen wie Männer rauchen das Kraut, das vor jeder zweiten Hütte wächst, unaufhörlich aus handgeschnitzten Pfeifen, und selbst Kinder im Grundschulalter sieht man schmauchend am Straßenrand vor ihrer kargen Gemüseernte sitzen. Bekannt ist Ratanakiri vor allem für seine Edelsteine. Sie werden unter primitivsten Bedingungen aus der Erde gebuddelt. Wenn sie nicht gleich zur Weiterverarbeitung nach Thailand verkauft werden, sind sie auf dem Markt von Banlung zu erwerben. Diese funkelnden Schätze der Natur haben Khmer aus dem ganzen Land angelockt, auf der Suche nach dem großen Fund, dem großen Glück.

Ein kleiner Hirtenjunge hinter einer Hand voll knochiger Rinder. Barbusige Frauen mit geflochtenen Körben auf dem Rücken. Auf einem staubigen Platz in der Dorfmitte spielen junge Männer Volleyball, während die alten auf dem Boden einer offenen Bambushütte im Kreis sitzen, rauchen, schwatzen, in ihrer Mitte ein großer tönerner Krug Reiswein, aus dem lange, dünne Bambushalme ragen. Das sind die Bilder, die bleiben, lange nachdem der letzte Rest des roten Staubes von Ratanakiri in einem Strudel im Abfluss der Dusche verschwunden ist.