tariq ramadan in Berlin
: Diaspora und Selbstbewusstsein

Ob die Präsenz von Muslimen in Europa langfristig zu einer Islamisierung Europas führen wird, wie manche warnen, oder zu einer Europäisierung des Islam, wie andere abwiegeln, an dieser Frage scheiden sich derzeit die Geister. Je nach Perspektive fällt auch das Urteil über Tariq Ramadan aus, den wohl schillerndsten Advokaten des Islam in Europa.

Am Donnerstag war der streitbare Gelehrte aus Genf in Berlin, um an der Humboldt-Universität einen Vortrag zur „Muslimischen Renaissance in Europa“ zu halten, und zog erwartungsgemäß ein ganzes Bataillon von Journalisten an. Zwar offenbarte sein Vortrag nichts grundlegend Neues, nichts, was nicht auch schon in seinen Büchern nachzulesen gewesen wäre. Doch wie er da so am Rednerpult stand, mit akkuratem Dreitagebart, weißem Button-down-Hemd und elegantem Anzug, und wie er mit geschliffener Rhetorik und knappen Merksätzen den Reform-Islam à la Ramadan erklärte, machte deutlich, warum er so vielen jungen Muslimen als Vorbild gilt. Niemand verkörpert in Gestus und Auftreten so perfekt die Symbiose von muslimischem Glauben und westlicher Bildung wie dieser drahtige Intellektuelle, dessen One-Man-Show bei den Kopftuch-Studentinnen auf viel Zuspruch stieß. Ramadan steht für ein muslimisches Selbstbewusstsein in der Diaspora, die diese nicht mehr als Diaspora begreift.

Loyalitätskonflikte zwischen Glauben und Staatsbürgerschaft sieht er nicht: Einem Mädchen, das wegen des Kopftuchverbots in Frankreich vor der Wahl zwischen Kopftuch und Schulbildung steht, würde er zum Schulbesuch raten, sagte er, und sie trotzdem ermuntern, weiter gegen das Verbot zu kämpfen.

Offensiv begegnete er dem Vorwurf der Doppelzüngigkeit, der zuweilen gegen ihn erhoben wird, und verglich ihn mit Unterstellungen aus dem Arsenal des Antisemitismus. Tatsächlich ließen seine Aussagen zur Gleichberechtigung, seine Ablehnung jeder Relativierung des Holocaust sowie zu Menschenrechtsverletzungen in islamischen Ländern an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Sie machten auch klar, warum er nicht nur in den USA, sondern auch in Ägypten, Saudi-Arabien und Tunesien Einreiseverbot erhalten hat. So viel Selbstbewusstsein wird wohl auch dort als Gefahr für den Status quo empfunden.

DANIEL BAX