Schweben gegen Schwere

Ein verzwicktes Labyrinth aus Straßen und Erinnerungen: Patrick Modiano bringt in seinem neuen Roman „Unfall in der Nacht“ Nietzsche, Proust und Benjamin in Stellung

Also sprach Patrick Zarathustra: „Müssen wir nicht alle schon da gewesen sein? Müssen wir nicht ewig wiederkommen?“

Es passiert an einem Torweg. Der Mond scheint. Da offenbart Zarathustra dem Geist der Schwere den tiefsten aller Gedanken: „Müssen wir nicht alle schon da gewesen sein? Müssen wir nicht ewig wiederkommen?“ Ein Hund heult. Man setze nun statt Torweg den Place des Pyramides in Paris, statt dem Geist der Schwere die Schubkraft, mit der ein wassergrüner Fiat dem Ich-Erzähler in die Flanken fährt, man denke an den Hund – und schon ist man in der Schlüsselszene von Patrick Modianos neuestem Roman „Unfall in der Nacht“.

Sie handelt von der Kollision mit einem Auto und der Zeit, von der Begegnung mit einer schönen Unbekannten und der Erfahrung, wie die Vergangenheit und ihre Wiederkunft unwillkürlich aneinander grenzen. Später, im Ätherrausch in der Klinik, erscheint es dem Protagonisten, als habe er all dies schon einmal erlebt: die gleiche Nacht, den gleichen Unfall, den gleichen Geruch. Und wie ihm geht es dem Leser von Modianos Romanen.

Auch er lebt im befremdlichen, aber ebenso verführerischen Gefühl einer Wiederkehr des Immergleichen. Er begegnet ähnlichen Gestalten, die in den Straßen eines düsteren Paris verschiedene Zeitschichten durchdringen, auf der Suche nach etwas Verlorenem: einer unglücklichen Kindheit, den irgendwo verschollenen Eltern oder, wie in „Unfall in der Nacht“, einer rätselhaft anziehenden Frau.

Den Spuren jener Frau – und denen Nietzsches – folgt der Erzähler nun durch die Stadt. Je tiefer er in sie eindringt, umso befremdlicher erscheinen ihre landläufig bekannten Prospekte. Da sind die Namen der großen Boulevards, der Quais, der Metrostationen, aber nur eine Seitenstraße weiter verliert sich der Weg ins Ungewisse. Die Vergangenheit bildet hier beunruhigende Parallelgesellschaften. Ihr Sammlungsort sind Cafés. In den einen tagt ein obskurer Philosophieprofessor, der statt die Rätsel der ewigen Wiederkehr zu offenbaren, etwas zu verbergen hat. In anderen schleicht sich der Vater heimlich aus dem Leben seines Sohns. In dritten wiederum begegnet der Erzähler Gestalten aus dem nächsten Umfeld der Gesuchten, nur will ihn niemand erkennen. Ein schwarzer Hund führt ihn dann ans Ziel.

Was sich auf den letzten Seiten anbahnt, ist freilich zu Beginn des Buchs längst wieder in die tiefste Vergangenheit hinab gerollt. So paradox – oder: absurd? – ist die Zeit hier verfasst.

Man würde in diesem Labyrinth aus Straßen und Erinnerungen wohl fehlgehen, wollte man seine obsessiven Topoi auf Autobiografisches zurückführen. Denn die verlorene Zeit, die hier beschworen wird, ist zutiefst literarisch fundiert. Zu ihr gehört der Nouveau Roman, Proust und Benjamin, aber auch jene französischen Nietzsche-Exegeten, denen Modiano mit besagtem Philosophieprofessor ein Denkmal gesetzt hat.

Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll: die Unbeirrbarkeit, mit der Modiano an seinen Motiven festhält. Oder die stetig wechselnden Muster, die er ihnen dabei abtrotzt. Unendlichkeit und Wiederholung, das sind die beiden Dimensionen, die die ewige Wiederkehr umspannt. Gegen den Geist der Schwere setzt Modiano sein schwebendes Schreiben. Man muss kein Übermensch sein, den fatalistischsten aller Gedanken in dieser Form auszuhalten.

STEFAN KISTER

Patrick Modiano: „Unfall in der Nacht“. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 2006, 144 Seiten, 15,90 €