„Es sieht klassisch amerikanisch aus“

Ein Gespräch mit dem Filmemacher Ang Lee über harte Schnitte, gereizte Bullen und den Wind über der Prärie

taz: Herr Lee, das Drehbuch zu „Brokeback Mountain“ entstand vor acht Jahren. Offenbar gab es viele Regisseure, die an einer Verfilmung Interesse hatten. Aber niemand setzte den Stoff um, bis sie kamen. Was gab den Ausschlag dafür?

Ang Lee: Drei oder vier Jahre bevor ich „Hulk“ drehte, hätte ich das Buch beinahe verfilmt. Als ich die Erzählung und das Drehbuch zum ersten Mal las, reizte mich die Vorstellung von diesem entrückten Brokeback Mountain enorm, von diesem Ort, der die Illusion von Liebe und Romantik repräsentiert – das gefiel mir sehr. Ich mochte das Setting, die Geschichte von etwas Verbotenem, die poetische Energie in Annie Proulx’ Erzählung. An der Stelle, an der Ennis die Hemden aus Jacks Schrank holt, habe ich weinen müssen. Es war also wirklich gutes Material für einen Film.

Und warum hat dann niemand zugegriffen, Sie zunächst auch nicht?

Vermutlich aus wirtschaftlichen Gründen. Der Film ist nicht so geschrieben, dass ein geringes Budget ausreichen würde. „Brokeback Mountain“ umfasst 20 Jahre im Leben der Figuren, der Film springt zwischen Wyoming und Texas, es gibt viele unterschiedliche Locations, sogar in Mexiko. Dafür braucht man Geld. Zugleich verlieren die Produzenten das Interesse, sobald man mehr als sechs, sieben Millionen Dollar ausgeben will – denn dann rechnet sich der Film nicht mehr. An der Stelle wurde das Projekt vermutlich jeweils fallen gelassen. Nachdem ich „Hulk“ gedreht hatte, erfuhr ich, dass „Brokeback Mountain“ noch immer nicht verfilmt worden war, und ich sagte mir: Ein zweites Mal verpasse ich diese Gelegenheit nicht. Ich hatte gerade zwei große Filme hinter mich gebracht; der Produzent James Schamus, der dem Focus-Studio vorsteht und mit dem ich immer zusammenarbeite, gab grünes Licht.

Wie hoch war denn das Budget?

Elf Millionen Dollar, ich glaube, ein bisschen mehr, weil ich ein wenig überzogen habe.

Wie ist Ihre Beziehung zu den Landschaften, in denen Sie filmen, zu den Bergen von Wyoming und den Ebenen von Texas?

Persönlich habe ich keinen Bezug dazu. Die Geschichte hat mich dorthin gezogen; als Filmemacher war ich fasziniert – aber nur, solange ich den Film drehte. Die Landschaft ist ja fast wie ein Figur in dem Film. Da ich als Chinese aufgewachsen bin, bin ich daran gewöhnt, dass man die Landschaft nutzt, um Ansichten, Meinungen und Gefühle auszudrücken, anstatt direkt davon zu sprechen. Wir sind ein unterdrücktes Volk.

Was hat Ihnen an den Landschaften gefallen?

Sie sind nicht wie der Grand Canyon. Man kann leichter mit ihnen umgehen, sie sind leicht im Bild einzurahmen, denn sie sind nicht zu groß, es gibt Gras, Schafe, Felsen, Bergrücken und Hügel – all das sieht für mich klassisch amerikanisch aus, wie auf den Fotografien von Ansel Adams.

Der Himmel rückt oft sehr prominent ins Bild.

Ja, auch das hat Vorbilder in der Fotografie – das Land zählt gar nicht so viel, der Himmel ist wichtiger, dementsprechend achte ich auf Wolken und das Spiel von Licht und Schatten. Natürlich spielt auch die Erfahrung, dort zu sein, eine große Rolle. Zum Beispiel der Wind: Immer ist Wind zu hören. Man hat nicht so viel Umgang mit Menschen wie in der Stadt. Man ist draußen in der Wildnis, man beansprucht eine Menge Raum und Zeit, und dem versuche ich im Film gerecht zu werden – etwa durch längere Pausen zwischen den Dialogzeilen oder indem ich darauf achtete, dass die Schauspieler Körpersprache statt Wörter verwenden oder dass sie viel Raum beanspruchen.

Sie legen viel Wert darauf, die soziale Schicht sehr genau darzustellen. Der Akzent, die Kostüme, die Innenräume – all dies wirkt sehr sorgsam ausgesucht. Warum war Ihnen diese Sorgfalt so wichtig?

Die Umwelt ist sehr wichtig für die Menschen. Im Westen scheint es so, als träfen wir all unsere Entscheidungen selbst, aus unserem Willen heraus. Aber wenn man sich das große Ganze anschaut, dann fügen wir uns doch in eine Landschaft ein, in die Muster des täglichen Lebens. Das ist für mich sehr wichtig. Das heißt auch, dass ich es beim Filmemachen wichtig finde, den Zuschauern so viele Details wie möglich zu geben, damit sie mir die Geschichte abnehmen. Details sind der beste Weg, die Zuschauer in eine imaginäre Welt hineinzuziehen, in der sie sich dann auf neue Gefühle und Anschauungen einlassen. Bei „Brokeback Mountain“ war es besonders wichtig, weil der Film ja einerseits auf einer Kurzgeschichte aufbaut, andererseits eine epische Dimension gewinnt. Zufällig herausgegriffene Abschnitte des Lebens akkumulieren sich. Um sich darin zurechtzufinden und die Zeitsprünge zu begreifen, braucht es ausreichend Details.

Der elliptische Stil erfordert ein aufmerksames Publikum. Es gibt Anspielungen, die sich erst eine Stunde später erschließen. Zum Beispiel das Hemd, von dem Sie vorhin sprachen. Bevor Jack und Ennis die Schafe ins Tal treiben, prügeln sie sich, wobei Ennis' Hemd blutig wird. Als sie im Tal angekommen sind, sagt Ennis: „Ich kann einfach nicht glauben, dass ich mein Hemd dort oben habe liegen lassen.“ Erst am Ende des Films, wenn Ennis sein Hemd neben dem Jacks wiederfindet, begreift man diesen Satz.

Beim Filmemachen muss man sich immer vorstellen können, was es realistischerweise braucht, um an einen bestimmten Punkt zu gelangen – man muss sich über die Vorgeschichte im Klaren sein. Man muss genug Anspielungen einbauen, damit das Publikum seine Intelligenz nutzt, um die Dinge selbständig zusammenzusetzen. Nehmen Sie dieses Hemd: Es reicht nicht, es einfach irgendwo mit Blut zu beschmutzen. Also plante ich, dass es am Ärmel sein müsste, am rechten, und es muss in der späteren Szene natürlich an derselben Stelle sein, damit Ennis sich zurückerinnern kann. Damit das Blut an die richtige Stelle kommt, muss ich den Kampf entsprechend choreografieren: Jack schlägt Ennis, dessen Nase beginnt zu bluten, er wischt sich mit dem rechten Ärmel das Blut ab. Trotzdem war ich unsicher, ob sich die Leute merken würden, welches Hemd wem gehört. Daher trägt Ennis immer karierte Hemden, während Jack, obwohl er im Lauf des Filmes ja reicher und reicher wird, immer einfarbige Hemden trägt. Sie sehen, man muss die Dinge sehr sorgfältig planen, und trotzdem müssen sie natürlich wirken.

In Jacks Schrank sind die Hemden so angeordnet, dass das Jacks über dem von Ennis hängt. Hinterher, in Ennis' Trailer, ist es genau andersherum. Sein Hemd umfängt das Jacks.

Ja, das ist, als umarmten die Hemden einander, ein sehr intimer Augenblick, der alles über die Story und die Beziehung der beiden sagt – aber eben nicht über den Dialog, sondern ohne Worte. Ich kenne nichts, was wirkungsvoller wäre. Wenn Ennis das Hemd findet, berührt mich das enorm. Eigentlich war dieser Augenblick der Grund, warum ich den Film machen wollte.

Manchmal arbeiten Sie mit sehr harten Schnitten. Zum Beispiel, wenn Ennis mit seiner Frau Alma schläft, sie dabei auf den Bauch dreht, und das Nächste, was man sieht, ist ein Bulle, der aus der Rodeobox prescht, mit Jack auf seinem Rücken. Können Sie das Konzept der Montage erläutern?

Diese Schnitte denke ich mir aus, wenn ich die Szenen plane, wenn ich die Drehorte besichtige. Ich kenne das Drehbuch, ich weiß, welche Szene auf welche folgt, und ich habe jahrelang an Schnittplätzen verbracht, das heißt, in meinem Kopf ist immerzu ein Schnittplatz im Einsatz. Daher ist es unvermeidlich, dass der Bulle auf die Einstellung folgt, in der Ennis Alma auf den Bauch dreht. Allerdings habe ich es mir zunächst etwas anders vorgestellt. Es gibt eine Methode, mit der man den Bullen reizt: Man schlingt ein dickes Seil um seine Leisten, das quetscht die Hoden, sodass das Tier wirklich gereizt ist. Das wollte ich haben: das Quetschen der Hoden, als Nächstes das Auge, dem man die Irritation ansieht, und dann wird das Tier freigelassen.

Warum haben Sie das nicht gemacht?

Weil das sehr schwierig zu filmende Einstellungen sind und ich nicht genug Zeit hatte. Daher sieht man, wie der Bulle aus der Box stürmt, dazu Speichel, der durch die Luft fliegt. So konnten wir unserer Idee gerecht werden.

Der erste Sex zwischen Jack und Ennis ist rau. Am nächsten Morgen findet Ennis ein von einem Kojoten gerissenes Schaf, dem man gewissermaßen direkt in die Eingeweide schaut. Das war keine zufällige Kombination, oder?

Der Location Scout hat nach einem Ort gesucht, der entlegen ist, entfernt von der Schafherde. So konnte das gerissene Schaf wie ein Opfer aussehen. Was die Eingeweide anbelangt, so ist das realistisch; ein Tier frisst das andere, indem es bei den Eingeweiden anfängt. Ich hatte Sorge, ob das Publikum damit klarkommen würde, bin aber froh, dass die Einstellung im fertigen Film ist. Eine andere Einstellung hat es nicht geschafft: Ennis wird als Kind von seinem Vater dazu gezwungen, einen ermordeten Farmer anzuschauen, der fast in derselben Haltung daliegt wie das Schaf.

Dieser Mann wurde umgebracht, weil er mit einem anderen Mann zusammenlebte.

Ja, und eigentlich sollte Jack diesen alten Mann spielen, jedenfalls in Ennis' Vorstellung. Aber das war zu viel, zu biblisch. So wie es jetzt ist, ist es weniger direkt.

In meiner Wahrnehmung vermischt der Film zwei Genres: den Western mit seinen Landschaften und seinem Männlichkeitsideal einerseits, das Melodrama mit seiner Thematisierung unglücklicher Liebe und verpfuschten Lebens andererseits. Wie sehen Sie das?

Wenn wir an Western denken, denken wir erst mal an Revolverhelden und Schießereien. Mit dem Leben im Westen der USA hat das nur wenig zu tun. Ich arbeite mit zwei herausragenden Erzählern zusammen, mit Annie Proulx und Larry McMurtry. Sie halten sich an das Leben, an den Alltag, und dahin wollte auch ich mich bewegen. Sicher, ich borge Elemente aus der Kultur des Westerns – den Wind, die Landschaft, die Tiere, die Cowboys mit ihrem Macho-Naturell. Aber die Liebesgeschichte ist universell. Für mich ist sie die große amerikanische Liebesgeschichte. Wir wissen nicht wirklich, was Liebe ist, sie ist so abstrakt, so flüchtig, also bleibt uns nichts anderes, als ihr nachzujagen wie dem Wind in den Prärien des Westens.

INTERVIEW: CRISTINA NORD