Was ist Geld?!

Lutz Kann, ein jüdischer Remigrant, erzählt

„Ein Maultier macht, was es will. Aber das Kutschersein war gut“

LUTZ KANN

VON GABRIELE GOETTLE

1933 lebten im Deutschen Reich etwa 515.000 Mitglieder jüdischer Gemeinden. Lutz Kann war eines davon. 250.000 bis 300.000 jüdischen Bürgern gelang es, in den darauf folgenden Jahren Nazi-Deutschland zu verlassen und irgendwo Exil zu finden. 60.000 davon konnten nach Palästina auswandern, unter ihnen Lutz Kann. 1945 hatten in Deutschland schätzungsweise kaum 15.000 Juden in sogenannten Mischehen oder in der Illegalität überlebt. In den 50er und 60er Jahren kehrte eine relativ kleine Anzahl von Emigranten in beide Teile Deutschlands zurück. Unter den Remigranten war auch Lutz Kann.

Wir, Elisabeth Kmölniger und ich, lernten Lutz Kann und seine Frau Sonja 1992 kennen. Sie hatten uns zu sich eingeladen, um die Geschichte ihrer Emigration und Rückkehr nach Deutschland zu erzählen. Damals wie heute wohnen sie in Berlin-Charlottenburg, mit Blick in den Hinterhof, auf eine große, 1912 in neoromanischem Stil erbaute Synagoge aus rotem Backstein. Sie wurde 1938 nur deshalb nicht in Brand gesteckt, weil das Feuer unweigerlich auf die umliegenden Wohnhäuser des Hinterhofs übergegriffen hätte. Nach 1945 versammelten sich überlebende Juden in dieser Synagoge, um allmählich wieder ein kleines Gemeindeleben aufzubauen. Die Synagoge wurde rasch zu einem Zentrum jüdischer Kultur. Jeder Berliner kannte die Radioübertragung der Sabbatfeier am Freitagabend mit dem Rias-Kammerchor.

Nun, im Sommer 2013, nach 21 Jahren, steigen wir wieder die vielen Stufen zur Wohnung von Lutz Kann hinauf und betrachten von jedem Stockwerk aus die Synagoge durchs Treppenhausfenster. Als wir Herrn Kann damals besuchten, war er 70. Heute, mit 91, wirkt er so wohlgelaunt und dynamisch wie ehedem. Liebenswürdig bittet er uns ins Wohnzimmer, bietet Tee an, erklärt, dass seine Frau noch schläft und dass sie leider inzwischen demenzkrank geworden sei, uns also nicht mehr wiedererkennen wird. Gefasst erzählt er vom beschwerlichen Alltag und wie sehr der Sohn ihm hilft. Er spricht von den Gefühlen des Verlassenseins, die ihn oft überwältigen, weil seine Frau keinerlei Erinnerung mehr an die Vergangenheit, die gemeinsamen Jahre hat. Ein großes Problem sei auch seine Unselbstständigkeit in finanziellen Dingen, die allesamt von seiner Frau – ehemals Buchhalterin – verwaltet und geordnet wurden. Nun mache das zum Glück sein Sohn. Unlängst bei einem Telefonat hatte mir Lutz Kann erklärt, wie er zu dieser Unfähigkeit kam, mit Gelddingen umzugehen. Er erzählte, dass es ihm damals nach 1945, bei seinen Restitutionsansprüchen das Elternhaus betreffend, nicht möglich war, irgendeinen Geldwert anzugeben, den Verlust anhand des materiellen Wertes zu beziffern. Aber nicht nur deshalb, weil er mehr verloren hatte als ein Haus, sondern auch deshalb, weil er im sozialistischen Kibbuz und auch beim Militär kaum Berührung hatte mit Geld. Ich bitte ihn, uns Genaueres darüber zu erzählen:

Die blaue Spendenbüchse

„Da muss ich ein bisschen zurückgreifen, wenn ich darf ? Ich bin 1922 im hessischen Wolfhagen geboren, im Haus meines Vaters, mithilfe einer Hebamme. Später bin ich dann vier Jahre in die Jüdische Schule gegangen und danach habe ich gewechselt. Als dann aber der Arierparagraf gekommen ist und ich aus rassischen Gründen vom Gymnasium runtermusste auf die Volksschule, da wurde alles anders. Auch eine Mittlere Reife gab es nicht mehr für jüdische Schüler. Ich habe acht Schuljahre gemacht, mehr hat man nicht bekommen. Die einzige jüdische Schule, die es noch gab im ganzen Landkreis, die war in Kassel. Jeden Tag musste ich hin und zurück mit dem Zug, eine Stunde Fahrzeit. Wie es weitergehen sollte, das wusste ich nicht, aber ich hatte einen Cousin, der war Funktionär bei einer sozialistischen zionistischen Jugendbewegung. Er hat mich da eingeschrieben. Ich bin dann auch mit so einer blauen Spendenbüchse von Ort zu Ort gefahren und habe überall, wo Juden waren, Geld gesammelt für den Jüdischen Nationalfonds, für Keren Kayemeth LeIsrael, also mit diesem Geld hat man dann Boden gekauft von reichen Arabern in Palästina.“ Während Lutz Kann erzählt, wird mir plötzlich klar, dass er eigentlich einen Akzent hat wie ein Ausländer, der Deutsch spricht. Dass von seinem heimatlichen Dialekt kein Rest blieb, dass er manchmal nach Worten suchen muss, dass ihm seine Muttersprache zur Fremdsprache geworden ist.

„Palästina war ja britisches Mandatsgebiet. Es gab arabische Großgrundbesitzer. Diese reichen Efendis, die haben nichts bearbeitet, die lebten in Paris, in London. Von denen wurde Land gekauft, auf dem dann die Kibbuzim entstanden. Das Land liegt im Tal zwischen Haifa und dem Jordantal, in der Jesreel-Ebene. Zwei Berge gibt es da, den Berg Tabor oder Tabbur, was bedeutet ‚Nabel der Welt‘, der andere heißt Gilboa. Damals war das Land Sumpf- und Ödland. Man musste es erst mal trockenlegen, urbar machen, bewässern. Es hat Jahre gedauert, bis man überhaupt was anpflanzen konnte. Deshalb waren Kibbuzim kein Geschäft, es gab keinen Profit davon.

Aber noch war ich ja nicht dort. Die Frage war, wie kommt man raus aus Deutschland? Wenn einer Geld hatte, war es kein Problem, aber bei vielen war es wie bei meinen Eltern, so ein mittlerer Mittelstand ohne Reichtümer. Jüdische Handwerker gab’s auf dem Land nur wenige, Proletarier und auch Bauern so gut wie gar nicht unter Juden. Für Palästina wurden aber Leute gebraucht, die handwerkliches Geschick hatten und hart arbeiten konnten.

Also habe ich mich auf die Suche gemacht nach der sogenannten Hachschara, das waren jüdische Ausbildungszentren der Zionistischen Vereinigung Deutschlands, zur Tauglichmachung und Vorbereitung auf Leben und Arbeit in Palästina. Da haben wir Glück gehabt, das war sogar von den Nazis gefördert und wurde erst 1938 verboten. Zuerst war ich in Mannheim bei der jüdischen Friedhofsgärtnerei, dann in der gewerblichen Vorschule der jüdischen Gemeinde in Köln, dort habe ich eine Schlosserlehre gemacht. Meine Eltern haben anfangs noch bezahlen können, dann hat die jüdische Gemeinde das übernommen.

Damals im März war gerade der Einmarsch der Wehrmacht in die entmilitarisierte Zone, ins Rheinland – vorher hatten sie ja die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt. Jedenfalls, man brauchte Arbeitskräfte, besonders in der Landwirtschaft, und wir bekamen tatsächlich eine Umschulung bei nichtjüdischen Betrieben. Ja, das hat es gegeben! Dann nach der Pogromnacht aber war das zu Ende. Es hat Anstrengungen gegeben von Amerika und noch weitere … die Engländer haben dann noch mal 5.000 Zertifikate gegeben für die Einreise nach Palästina für Jugendliche, zur Jugend-Alija. Die Jugend-Alija ist 1933 von einer jüdischen Widerstandskämpferin gegründet worden, von Recha Freier, und durch sie sind viele Kinder aus Nazi-Deutschland gerettet worden.“ [Einstein hat sie in den 50er Jahren vergeblich zum Nobelpreis vorgeschlagen. Anm. G. G.]

„Alija heißt auf Deutsch ‚Aufstieg nach Israel‘ – auf den Berg Zion. Und wenn man das Land verlässt, ist es das Gegenteil und heißt Jerida. Beides habe ich gemacht. Von den 5.000 Zertifikaten habe auch ich eins bekommen. 1939 sind wir nach Israel, meine Schwester und ich – die Schwester war erst 14 und ist mit einem Kindertransport über Holland gefahren. Das war ein sehr bitterer Prozess für die Eltern. Es gab Eltern, die konnten sich nicht trennen von ihren Kindern, und dann war es zu spät und man hat sie nach Riga oder Auschwitz gebracht. Aber woher sollten sie das wissen? Das konnte sich ja keiner vorstellen, so einen Massenmord! Unsere Eltern jedenfalls haben gesagt, erst mal sollen die Kinder raus. Sie haben meiner Schwester und mir das Leben gerettet. Unsere Eltern und der Zionismus! Die Eltern sind damals für ein paar Tage zu mir nach Köln gefahren, um sich zu verabschieden, das waren traurige Momente, dabei wussten wir gar nicht, dass wir uns nicht wiedersehen. Sie selber haben dann keine Genehmigung mehr bekommen, und die britische Regierung hat 1939 die Ausgabe von Zertifikaten ganz eingestellt.

Wir, die Kinder mit Zertifikat, sind dann von Köln mit dem Zug nach Triest gefahren. Es gab einen eigenen … wie heißt das, wo man einsteigt? Ja, Bahnsteig. Aus dem ganzen Rheinland sind die Jugendlichen gekommen. Wir sind in Triest auf ein italienisches Schiff gebracht worden. Die meisten Jugendlichen waren aus unpolitischen Häusern, manch einer hat die Hitlerjugend beneidet und wäre ohne den Rasseparagrafen ein guter Nazi geworden. Das hat mich eigentlich gewundert. Ich glaube, nach sechs Tagen ist unser Schiffe angekommen in Haifa. Es gab grade irgendwelche Unruhen. Beim Autobus, der uns abgeholt hat, waren die Fenster vergittert, damit keiner eine Bombe reinwerfen kann, hat man uns gesagt. Er fuhr uns zum Kibbuz.

Eisen und Stroh

Der Kibbuz, der uns aufgenommen hat, ist in den 20er Jahren von linken russischen Einwanderern gegründet worden. Das war der größte Kibbuz. Wir bildeten da drin eine kleine Einheit. Der Kibbuz war ja nicht so wie heute, wo es viel Komfort gibt. Jeder von uns hat erst mal ein Zelt bekommen, ein eisernes Bett und einen Strohsack, es gab kaum Matratzen. Manchmal waren es zu wenig Zelte, sodass ein verheiratetes Paar noch einen dazunehmen musste. Alle waren mittellos. Das hat man ohne Murren hingenommen, du hast gewusst, der Kibbuz baut auf einem Hauptprinzip auf, der Solidarität. Du gibst, was du kannst. Und du bekommst, was du bedarfst. Die Sachen von uns sind alle in ein Magazin gekommen, später hat man Nummern eingeführt, auch zum Einnähen in die Kleidung, aber es gab eigentlich kein Privateigentum in dem Sinn, es war alles kollektiv. Wenn einer gekommen ist mit einem Koffer und ein anderer hatte keine Unterwäsche mehr, dann hat der sie aus seinem Koffer geholt und ihm gegeben. Dort mussten wir uns dann einleben, haben halbtags gearbeitet, und den anderen halben Tag haben wir gelernt, Hebräisch und Umschulung. Alles wurde geteilt und gemeinsam beschlossen. Heute ist das ganze System schon sehr individualisiert. Auch auf Staatsebene. Aber ich muss trotzdem sagen, die einzige Demokratie im Vorderen Orient, das ist Israel! Da können Soldaten heute demonstrieren gegen die Besetzung der arabischen Gebiete. Denn nicht alle sind einverstanden. Ich auch nicht!

Wir haben vor allem Boden trockengelegt für den Anbau von Orangen- und Zitrusfrüchten, Gemüse und Korn. Wir waren sehr knapp und haben nicht leben können von unserer Arbeit anfangs. Mussten uns Arbeit suchen bei den Orangenbesitzern. Viele Orangenbesitzer waren auch Juden und ziemlich reiche Kapitalisten, die eingewandert sind. In Israel gab’s damals schon eine Arbeiterklasse, und es gab jüdische Unternehmer, und die waren manchmal sehr miese Gestalten. Sie haben die eigenen Leute links liegen lassen, denn ein Araber hat billiger gearbeitet, den hat er eingestellt. Manchmal mussten wir kämpfen um einen Arbeitsplatz. Wir haben die Bewässerungsanlagen gemacht an den Orangen und Grapefruitbäumen, die Arbeit war grausam. Aber das waren unsere Einnahmen, die sind in unsere Kasse geflossen, und diese Kasse war eine Gemeinschaftskasse. Davon wurde das angeschafft, was wir nicht selber erzeugen konnten, und es gab immer Versammlungen, wo das gemeinsam beschlossen worden ist. Von dem, was übrig war, hat man dann etwas Taschengeld bekommen.

Ja, dazu gehört ein gewisser Idealismus. Aber wir brauchten keine Prämien, wir hatten einen demokratischen Sozialismus. Ohne Medaillen und Parolen! Wenn man gesagt hat, wir wollen einen Kuhstall bauen, dann ist man zusammengekommen, und es wurde abgestimmt, was gemacht wird. Es gab eine Schlosserei, Schneiderei, Wäscherei, einen Schuster. Der Schuster hat genommen alte Autoreifen als Gummisohlen. Es gab noch keine Mützen mit Schild, sondern solche Schiffchen, die hat der Schneider aus drei Stoffecken gemacht. Ich war dann eine ganze Weile Fuhrmann. Bin aufs Feld gefahren und habe den Klee aufgeladen mit der Heugabel, bin zurückgefahren zum Kuhstall und hab’s dort abgeladen. Das Gespann waren Maultiere. Ein Maultier ist stur und macht, was es will. Aber das Kutschersein war gut, ich musste mich nicht so viel bücken wie beim Unkrauthacken.

Salzfabrik am Toten Meer

Da waren wir zwei Jahre, und in diesen zwei Jahren haben auch die Eltern noch bezahlt, soweit sie konnten, ab und zu kam von ihnen auch Post. Sorgen habe ich mir schon gemacht. Derweil ist der Krieg ausgebrochen, und da kam keiner mehr raus aus Deutschland, es gab nur noch illegale Einwanderung nach Palästina über Rumänien, über die Balkanstaaten. Nach diesen zwei Jahren sind wir dann gegangen zur Ansiedelung. Wir haben ein Stück Boden bekommen, und verschiedene Jugendgruppen haben sich angesiedelt, einen neuen Kibbuz gegründet. Wir sind ans Tote Meer gegangen, dort gab’s eine große Salzfabrik. Wir mussten den Salzgehalt des Jordanwassers für uns etwas runterlassen, es hat Monate gedauert, bis wir die ersten Tomaten pflanzen konnten. Inzwischen ist Rommel vorgerückt, bis El-Alamein an der libysch-ägyptischen Grenze. Der ganze Orient war voll mit Militär.

Für die allgemeine jüdische Bevölkerung war das eine Bedrohung. Sie hat aufgerufen, man muss sich an dem Krieg beteiligen. Jeder Kibbuz hat eine gewisse Anzahl von Waffen bekommen, alte Waffen, meistens welche, die die Italiener in der Wüste weggeworfen hatten. Aus Spenden haben wir sogar Kanonen gekauft von Bananenrepubliken, es waren welche aus dem Ersten Weltkrieg von Krupp. Wir haben sie in Haifa am Hafen abgeholt. Die Kibbuzim mussten 10 Prozent der Leute zum Militär schicken. Wir sind dann als Infanteristen in eine britische Einheit verteilt worden und haben zum Beispiel Dagania verteidigt, waren aber mit unserer Artillerie nicht so erfolgreich, haben weit über die arabischen Linien am Jordan geschossen. Aber auf einmal sind Hagana-Leute gekommen und haben uns geholfen – wir hatten damals noch keine eigene Armee, der Staat wurde ja erst am 15. Mai 1948 gegründet.

Ich selber habe gedient von dem Tag an, wo die Nazis nach Russland marschiert sind. Das war am 22. Juni 1941. Ich war überall, habe den ganzen Dings mitgemacht gegen die Nazis. Am Kriegsende war ich in Ravenna und Mitglied einer jüdischen Brigade von 7.000 Mann. Im Mai 1945 haben sie uns ja nicht gleich nach Hause geschickt. Wir waren in Tarvisio stationiert an der italienischen Grenze, dort waren die Partisanen, Tito-Gruppen, dann wurden wir auf ganz Deutschland verteilt und auch nach Holland. Durch Deutschland sind wir durchgefahren 1945, im Konvoi. Ich weiß noch, wir waren in Köln und haben gesehen, wie das alles bombardiert war. Wir mussten dort stundenlang warten, bis die Brücke frei war. Damals haben wir noch nicht gewusst, dass die Eltern nicht mehr leben. Erst dachte ich, wir hören von ihnen nichts mehr, weil Krieg ist und die Post nicht geht. Im Laufe des Krieges hatte ich nur erfahren, dass man Juden deportiert hat in den Osten. Man hat natürlich angenommen, dass sie es dort nicht so gut haben und viel arbeiten müssen.

Wir wurden nach Holland eingeteilt zur Bewachung von Kriegsgefangenen. Nazis. Mein Deutsch hatte ich fast verlernt, Jiddisch habe ich noch gekonnt. Ich habe gleich bei meiner britischen Dienststelle um Urlaub gebeten, um meine Eltern wiederzusehen. 1945 bin ich in Kassel angekommen, mitten in den ganzen Trümmern, und habe die Frau vom Bruder meines Vaters gefunden. Der Bruder war Fotograf, hieß Adolf. Er ist so ein Krüppel gewesen mit Klumpfuß. Ganz Wolfhagen kannte ihn, er hat alle Schulkinder, Hochzeiten und Konfirmationen fotografiert. Um die Frau wurde er beneidet. Sie war keine Jüdin. Eine sehr schöne Frau, Tochter von Schaustellern. Er ist in einem Shelter umgekommen bei der Bombardierung Kassels durch die Briten. Das war, wie ich dann von ihr erfahren habe, nachdem meine Eltern deportiert waren. Er durfte bleiben, wegen der ‚arischen‘ Frau. Ich bin dann aufs Rathaus und aufs Anmeldeamt, und da hat man mir gesagt: Ihre Eltern sind deportiert worden am 9. Dezember 1941. Und sie sind abgemeldet nach Riga. Ob sie noch leben, können wir nicht Ihnen nicht sagen. Von diesem Transport jedenfalls, mit über tausend Kasseler Juden, ist bis jetzt keiner zurückgekommen. Das war die Auskunft.

Ich habe noch erfahren, dass ihnen unser Haus in Wolfhagen weggenommen worden ist. Den Schlüssel vom Haus mit allem, was drin war, hatten sie einem Auktionär aushändigen müssen, gegen irgendeine symbolische Gutschrift. Sie mussten eine Liste machen über den ganzen Hausrat und alles. Diese Liste habe ich unlängst, kurz vor der Ehrenbürgerschaft, in Wolfhagen zum ersten Mal gesehen. Da war eine Ausstellung: ‚Legalisierter Raub. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn‘. Das hat mich erschüttert, die Liste von unseren Sachen zu sehen! Jedenfalls, gewohnt haben die Eltern dann im Judenhaus in Kassel. Sie haben mir, nachdem ich Deutschland verlassen hatte, mal eine Skizze geschickt von ihrer Unterbringung dort, drei Familien waren in einer Wohnung, und jede musste sich ein Zimmer teilen.“ Er zeigt uns die Skizze seiner Mutter, sie ist in schöner Schrift mit Tintenstift auf ein fleckig gewordenes Stück Papier gezeichnet und trägt die Rostspur einer Büroklammer. „Später habe ich erfahren, zwei Wochen vor ihrer Deportation mussten sie einen Fragebogen ausfüllen, was sie an Wertsachen haben, an Geld auf der Bank, an Besitztümern bis hin zum Taschentuch. Und sie wurden aufgefordert, sich zum angegebenen Termin mit 20 Kilo Gepäck auf einem bestimmten Sammelplatz einzufinden. Das Gepäck wurde in Gepäckwagen verladen hinten am Zug. Es ist aber nie angekommen.

Ohne Rachegedanken

Dann musste ich wieder zurück nach Holland, Nazis bewachen. Leicht war das nicht! Sie redeten von ihrer schönen Heimat, ohne zu merken, dass das ja auch mal meine war, die ich unfreiwillig verlassen habe. Und ich fragte: ‚Sagen Sie mal, was machen Sie in Stalingrad, wenn Ihre Heimat am Rhein so schön ist?!‘ Man konnte sie sehr leicht vollkommen durcheinanderbringen. Aber ich habe mich zusammengerissen.

Ich sag Ihnen was, ich hatte keine Rachegedanken! Aber nicht, weil ich verziehen habe, sondern weil Rache nicht zu praktizieren war. An wem hätte ich Rache nehmen sollen mit gutem Gewissen? Vielleicht wenn ich gewusst hätte, wer meine Eltern in Riga umgebracht hat. Aber da war ja nichts rauszukriegen. Ich habe später sogar mal in Kassel bei der Bahn angefragt, wer das Begleitpersonal war in den Zügen bei den Deportationstransporten. Nicht um Rache zu nehmen, sondern um rauszufinden, wo man sie hinbrachte. Aber die Deutsche Reichsbahn hat angeblich keine Unterlagen darüber finden können.

Und dann sind wir nach und nach entlassen worden, es gab einen Code: Wie alt? Verheiratet? Kinder? Fronterfahrung? Und mein Code, der ist erst im August 1946 entlassen worden. Und dann konnten wir wählen: United Kingdom oder Mutterland. Fast alle aus unserer Brigade wollten zurück nach Palästina. Ich auch. Dort war meine Schwester. Vorher haben wir aber in Holland noch eine Parade gemacht, die Königin Wilhelmina hat uns gelobt und allen eine Medaille gegeben. Sie war im Krieg im Exil in London und eine scharfe Antifaschistin gewesen.

Von Holland aus kehrten wir zurück nach Israel, und dort mussten wir im Camp unsere Militärklamotten alle behalten, denn wir hatten keine Zivilkleidung. Nach einer Weile haben sie uns einen Anzug gegeben und einen Hut. Es gab nur zwei Größen: entweder zu groß oder zu klein. Bald bin ich dann wieder in den Kibbuz gegangen, nicht in meinen alten – der war eingenommen worden –, sondern in einen Kibbuz namens Giv’at Brenner, südlich von Tel Aviv. Den haben 1928 russische Einwanderer – die mit der 4. Alija nach Palästina gekommen waren – als sozialistisches Kollektiv gegründet. Der Kibbuz war gut. Damals war ich 24. Jetzt muss ich mich mal kurz entschuldigen … ‚Haus der Benutzung‘ heißt das auf Hebräisch, die Toilette, beyt schim usch.“

Während seiner Abwesenheit kommt plötzlich Sonja Kann herein, mit kleinen, etwas unsicheren Schritten steuert sie auf uns zu. Die Begrüßung ist herzlich, ich erkläre unsere Anwesenheit, sage, dass wir sie und ihren Mann vor mehr als 20 Jahren kennengelernt haben und sie uns damals viel über ihr Exil in Lateinamerika erzählt hat und auch, wie sie sich in Deutschland fühlte. Sie setzt sich und sagt nach einem Moment des Schweigens mit fester Stimme: „Inzwischen macht es mir gar nichts mehr aus …“ Unsere Verblüffung wird durch die Rückkehr unseres Gastgebers gemildert. Er streicht ihr zärtlich über Kopf und Schulter und sagt: „Schön, dass du nun doch aufgestanden bist und dich zu uns setzt.“ Sie lächelt und verharrt vor ihrem Kuchen, ohne ihn anzurühren.

Lutz Kann fährt fort in seiner Erzählung: „1948 bin ich noch mal zum Militär, diesmal ins Zahal, in die neu gegründete israelische Armee. Da habe ich gedient knapp ein Jahr, bis zum ersten Waffenstillstand, dann bin ich in die Reserve entlassen worden. Bis zu meinem 50. hätte ich jedes Jahr zu den Übungen gehen müssen, aber mit 44 Jahren bin ich ja weggegangen. Geheiratet habe ich auch, und mein erster Sohn war geboren. Ich habe insgesamt dreimal geheiratet und habe drei Kinder. Zwei Söhne und eine Tochter. Der älteste ist in Israel – die Tochter auch. Er ist ein Sabre – ein in Israel geborener. Und er ist ein Psychoanalytiker, seine Frau ist Ärztin. Der andere Sohn ist ein gehobener Sozialarbeiter an der Jüdischen Schule hier in Berlin. Ich habe damals dann den Kibbuz verlassen und in einer Fabrik gearbeitet, die elektrische Geräte hergestellt hat. Im Mai 1966 bin ich dann nach Deutschland übersiedelt. aber nicht nach Hessen, da war mir zu viel Provinz. Ich bin nach Berlin gegangen. Habe zwei Jahre bei der US Army gearbeitet, bei der Air Force in der Waffenkammer, in Berlin Tempelhof. Dann habe ich erfahren, dass die öffentliche Verwaltung ein Drittel Remigranten beschäftigen muss, und da habe ich dann auch Arbeit gefunden im Bezirksamt Charlottenburg, und danach war ich im Bezirksamt Steglitz.“

Als es klingelt, erhebt sich Frau Kann sofort und sagt entschieden: „Ich mach schon auf.“ – „Es ist der Pflegedienst“, erklärt Lutz Kann, „sie wird jetzt versorgt für die Nacht. Manchmal muss ich sie morgens anziehen, manchmal kann sie es selbst. Das alles ist ein halbes Jahr vor meinem 90. Geburtstag gekommen. Sie ist wie ein Kind jetzt, ein sehr junges Kind. Sie hat überhaupt keine Erinnerung mehr. Wer ich bin, weiß sie nicht.“ Er zeigt auf die Bilder an der Wand: „Guckt mal, die Bilder, die sind alle gestickt von meiner Frau, alles Juden. Wie heißt er, der russisch-französische Maler … ja Chagall. Der war die Vorlage für meine Frau, das hat alles sie gemacht.“

Späte Ehrenbürgerschaft

Er geht ins Nebenzimmer und kommt mit einer Urkunde zurück. „Und nun lebe ich so lange in Deutschland, die wussten das in Wolfhagen, da kam von offizieller Seite so gut wie nichts. Und dann wollten sie mir Anfang 2013 die Ehrenbürgerschaft geben – mir und einem, der in Amerika noch lebt. Als ich das gehört habe, wollte ich erst nicht. Ich dachte, da wird nur viel geheuchelt. Aber ich habe gesehen, in den Großstädten und überall sind so viele Gedenkveranstaltungen, aber um die Juden, die in den Städtchen und Dörfern gewohnt haben, da kümmert sich keiner drum. Und da habe ich mir gedacht, Mensch, wer gedenkt der Juden in Wolfhagen? Deshalb habe ich Ja gesagt. Was ich nicht wusste, mein Vorgänger als Ehrenbürger war Adolf Hitler, erst kurz vorher wurde er gelöscht. Das hat mir keiner erzählt. Leider! Hätte ich gewusst, dass er meinetwegen gelöscht wird, das wäre mir mehr wert gewesen wie alles andere, wie das Stückel Papier hier am Ende.

Aber vergeben und vergessen habe ich nicht. Das ist nicht meine Meinung. Ich nehme nur Rücksicht auf die gutwilligen Jüngeren, die nach dem Krieg aufgewachsen sind, die das alles nicht verschuldet haben. Ich war viel in Schulen unterwegs die ganzen Jahre und habe Aufklärung betrieben und den Schülern ihre Fragen beantwortet. Das war mir das Wichtigste. Ich bin zufrieden heute. Auch mit meiner Rente. Je älter man wird, umso weniger Garderobe braucht man, umso weniger Wünsche und Bedürfnisse hat man. Die Beziehung zum Materiellen war für mich immer zweit- oder drittrangig. Nicht dass ich’s rausgeworfen habe, aber es hat mir nichts bedeutet. Damals habe ich ja Wiedergutmachung bekommen für die Schulunterbrechung und das Haus. Zweimal 5.000 Mark. Das war ein Klecks. Also geschäftliche Sachen machen mich ganz meschugge, Versicherungen, Rentenansprüche, der ganze Kram. Ich bin 91, ich habe meine Frau, auch wenn sie krank ist, wir haben ein Dach über dem Kopf, ich kriege meine kleine Rente von Israel, und ich habe meine Rente hier, habe auch die Zeit von 1941 bis 1945 für die Rente angerechnet bekommen. Das reicht, wozu mach ich mir Gedanken? Ich bin froh, dass ich mit dem Leben davongekommen bin. Was ist Geld?!“