Unterwegs in Raum und Zeit

FREMDE NATUR BJ Nilsen komponiert für Hummeln und Hammondorgeln. Für sein aktuelles Album „The Invisible City“ sammelte er Klänge in Skandinavien, Japan und Berlin, wo er heute lebt. Ein Porträt des schwedischen Musikers

Field Recording ist eine seltsame Sache. Da gehen Leute mit dem Mikrofon in die Natur hinaus und nehmen Geräusche auf, was das Zeug hält. Manchmal tun es auch die Klänge vor der eigenen Haustür. Mit der Ausbeute auf Band wird dann Musik gemacht. Früher nannte sich das „musique concrète“, doch die heutige Tape-Szene hat sich längst aufgesplittert und verschiedene Subgenres hervorgebracht.

Da gibt es Musiker, die sich auf originalgetreue Reproduktionen des Klanggeschehens in freier Wildbahn spezialisieren, andere verfremden ihr Material so stark, dass man nichts mehr vom Ursprung ahnt. Der Schwede BJ Nilsen bewegt sich zwischen diesen Extremen, doch ist er alles andere als ein Purist. Bei ihm kommen oft sogar ganz normale Instrumente zum Einsatz, selbst wenn man das nicht immer hören kann.

Wäre BJ Nilsen in Stockholm geboren, wäre er heute vielleicht kein Musiker. Oder ein ganz anderer Musiker. Benny Jonas Nilsen kam aber hundert Kilometer südlich der schwedischen Hauptstadt in einem 500-Seelen-Dorf zur Welt. Dort gab es keinen Plattenladen, dafür viel Natur ringsum. Für die hatte er schon als Jugendlicher ein sehr feines Ohr. Also fing er an, Musik mit Field Recordings zu machen, und veröffentlichte mit fünfzehn seine erste Platte. „Dass ich auf dem Land aufgewachsen bin, war sehr wichtig für meinen Umgang mit der Natur und den Klängen der Natur“, sagt der 35 Jahre alte Klangkünstler, der heute in Prenzlauer Berg lebt.

Geräusche stimmen

Mit den Klängen der Stadt hat sich Nilsen inzwischen auch vertraut gemacht. Für sein aktuelles Album „The Invisible City“ entstanden einige Aufnahmen in Berlin, andere Klänge sammelte er auf Reisen in Skandinavien oder Japan. Neben konventionellen Instrumenten wie Gitarre oder Hammondorgel hört man auch Hummeln oder das Geräusch eines Stuhls, der über den Boden geschleift wird. Das heißt, man hört sie zwar, aber man erkennt sie nicht unbedingt.

Das entspricht durchaus Nilsens Absicht. „Der tatsächliche Klang einer Gitarre interessiert mich nicht besonders, für mich ist es spannender, wenn man die Klänge nicht bestimmen kann.“ Wie die einzelnen Klänge zusammenfinden, ist für Nilsen besonders wichtig, gelegentlich vernimmt man auch vertraute Harmonien. „Alle Geräusche haben bestimmte Toneigenschaften, manchmal stimme ich sie sogar.“

Dass Nilsen sich Gitarre beibrachte und vorübergehend in Rockbands spielte, hat ihm dabei geholfen. „Ich war irgendwann von elektronischen Klängen gelangweilt und wollte in Bands spielen. Für das Arbeiten mit Harmonien war es sehr wichtig. In einer Rockband zu sein war jedoch zu schrecklich, daher bin ich wieder zu dem zurückgekehrt, was ich jetzt mache.“

Seine Musik mit Analogaufnahmen versteht er als eine „Ergänzung zur digitalen Welt“. Das sind nicht nur die Klänge selbst, sondern auch ihre Akustik – der Hall einer Kirche oder des eigenen Wohnungsflurs –, Dinge, die man im Computer lediglich simulieren kann, ohne wirklich dieselbe Wirkung zu erzielen. „Man bewegt Mikrofone und ist im Raum aktiv, statt vor dem Computer zu sitzen.“

Gespür für die Zeit

Das Musizieren beginnt für Nilsen schon beim Aufnehmen. „Nur weil man ein Mikrofon und ein Aufnahmegerät hat, muss das, was dort hineinkommt, noch lange nicht interessant sein. Oft finde ich es sogar sehr langweilig. Man muss daher schon bei der Aufzeichnung komponieren. Denn letzten Endes entscheidet man selbst, was man aufnimmt.“

Was Nilsens Musik so besonders macht, ist nicht nur das Verwischen der Grenze zwischen Geräusch und Instrument, sondern auch sein präzises Gespür für Zeit. Kein Ereignis klingt bei ihm willkürlich, alles fügt sich folgerichtig ineinander. Dass er mit seinen Klängen lange im Studio improvisiert, bis er zufrieden ist, kann man den fertigen Stücken anhören. „Es ist fast wie beim Schreiben einer Komposition, es geht Schritt für Schritt. Manchmal bewege ich einen Soundfile bloß um Millimeter, bis ich höre, dass es perfekt ist.“

Nilsen produziert auch Filmmusik oder nimmt Konzerte von Kollegen auf. Als das finnische Elektronikduo Pan Sonic vor gut zwei Jahren in der Volksbühne gegen die japanische Krachlegende Keiji Haino antrat, wurde er mit seinen Mikrofonen hinzugebeten. Das Ergebnis ist inzwischen als CD erschienen, und auch wer damals nicht im Konzert war, kann sich von der räumlichen Aufnahme in den Saal des Theaters versetzt fühlen, den damals tiefste Frequenzen erschütterten.

Eines seiner nächsten Projekte führt ihn nach Wien, um die Unterwelt der Stadt zu erkunden. „Das ist eine imaginäre Klangwelt und etwas, das ich schon seit langer Zeit machen will. Allerdings habe ich keine Ahnung, ob da unten auch etwas zu hören sein wird.“

TIM CASPAR BOEHME

■ BJ Nilsen: „The Invisible City“ (Touch), Pan Sonic & Haino, Keiji: „Shall I download a black hole and offer it to you“ (Blast First Petite)