Ein Schuss in den Ofen

Endlich soll die Föderalismusreform beschlossen werden. Doch die so genannte Mutter aller Reformen hat längst ihre ursprünglichen Ziele aus den Augen verloren

Skeptikern wird die Pistole auf die Brust gesetzt, öffentlicher Diskurs wird für unerwünscht erklärt

Heute wollen Bund und Länder die lange geplante Reform des bundesdeutschen Föderalismus auf den Weg bringen. In getrennten Sondersitzungen werden Bundesregierung, Regierungsfraktionen und Ministerpräsidenten der Länder ein Paket aus 25 Grundgesetzänderungen abnicken, damit es noch in dieser Woche in den Bundestag eingebracht und im Lauf des Sommers beschlossen werden kann.

Die Föderalismusreform gilt als die Reifeprüfung der großen Koalition, als Angela Merkels und Franz Münteferings Meisterstück. Doch als Reife wird heute offensichtlich verstanden, ein Projekt durchzuprügeln, das längst schon die eigenen Ziele verraten hat.

Die Problemlage ist klar: Die Bundesrepublik Deutschland hat sich ein Korsett zugelegt, das sie reichlich unbeweglich macht: ein Geflecht aus komplizierten Bund-Länder-Beziehungen. Bei der Schaffung von Bundesgesetzen wirken die Länder über den Bundesrat mit und haben in der Mehrzahl der Fälle sogar ein Vetorecht.

Die meist unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat ziehen oft in gegensätzliche Richtungen. Dadurch werden wichtige Entscheidungen wie das Zuwanderungsgesetz oder eine Gesundheitsreform verzögert, verwässert und teilweise auch verhindert. Angesichts solcher Rahmenbedingungen wirkt sogar die Elefantenhochzeit von SPD und CDU/CSU dynamisch, weil sie das Gegeneinander von Bund und Ländern ein Stück weit aufhebt.

Eigentlich sollte die Föderalismusreform dieses Korsett sprengen, damit Deutschland wieder Dynamik und Handlungsfähigkeit zurückgewinnt. Ein Ziel, das Konservative und Linke vereint. Für Konservative ist ein starker, selbstbewusster Staat ein identitätsstiftender Wert an sich und für Linke ist er zumindest ein notwendiges Instrument, um das soziale Modell Europas zu bewahren.

Zwar zerschlägt der 123-seitige Gesetzentwurf, der heute vorgelegt wird, tatsächlich an vielen Stellen das alte Korsett. Doch er schnürt im gleichen Zug ein neues, das teilweise noch enger sitzt, noch mehr Verflechtungen von Bund und Ländern bringt und Deutschland noch unübersichtlicher werden lässt.

Am entscheidenden Punkt, den Vetorechten der Länderkammer, wurde viel gebastelt, aber der Ertrag ist gering. Offiziell soll der Anteil der im Bundesrat zustimmungspflichtigen Gesetze von „bis zu 60 Prozent“ auf „35 bis 40 Prozent“ reduziert werden. Das allein ist schon wenig beeindruckend. Eine Verringerung der Vetorechte um ein Drittel ist kein qualitativer Sprung, vor allem wenn weiterhin fast alle wichtigen Gesetzesvorhaben zwischen Bund und Ländern ausgedealt werden müssen.

Hinzu kommt, dass die Zahl „35 bis 40“ überhaupt nicht belastbar ist. Bisher ist das eine reine PR-Größe. Die Reform bietet den Akteuren so viele Wahlmöglichkeiten und weist noch so viele rechtliche Unklarheiten auf, dass der neue Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze erst im Nachhinein bestimmt werden kann. Nicht wenige Experten in Berlin unken, dass die Vetomacht der Länder am Ende sogar höher sein könnte als zuvor.

Dann hätte der Bund wirklich ein schlimmes Eigentor geschossen. Denn gerade das vermeintliche Zugeständnis der Länder bei den Vetorechten wurde ihnen vom Bund mehrfach kompensiert, unter anderem durch Verlagerung von Gesetzgebungsrechten auf die Länder.

Dabei ist die Stärkung der Landtage schon im Ansatz verkehrt. Fast niemand in Deutschland will mehr Kleinstaaterei. Die Bürger wollen in ihrem Land mobil sein, ohne sich ständig auf neue Rechtslagen einstellen zu müssen. Die Wirtschaft will einheitliche Standards und nicht bei jedem Projekt die Rechtslage von 16 Ländern prüfen.

Selbst die meisten Bundesländer sind gegen diesen Wettbewerbsföderalismus, da er vor allem den leistungsstarken Flächenstaaten wie Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen nützt. Die Stadtstaaten und Ost-Länder sind tendenziell froh über jede zusätzliche Kompetenz, die sie nicht bekommen, weil sie eh nicht das Personal haben, die neuen Gestaltungsspielräume auszunutzen.

Deshalb gibt es jetzt in vielen Feldern – Umweltrecht, Hochschulzulassung, Verwaltungsverfahren – eine neue Konstruktion des Bund-Länder-Verhältnisses: Der Bund darf Gesetze erlassen, von denen einzelne Länder bei Belieben abweichen können. In vielen Ländern gälte dann das Bundesrecht, in anderen aber Landesgesetze. Und wenn der Bund ein neues Gesetz macht, gilt wieder überall das Bundesgesetz, von dem die Länder aber bei Belieben abweichen können.

„Pingpong-Gesetzgebung“ haben Spötter dies bereits genannt. Diese Intransparenz und Zersplitterung sind symptomatisch für die Reform. Es wird Jahre dauern, bis sich beim Umgang mit dem neuen Instrumentarium eine gewisse Routine einstellt. Hinzu kommen äußerst komplizierte Übergangsregeln für all die Gesetze, die der Bund in der Vergangenheit beschlossen hat, obwohl er sie künftig nicht mehr beschließen dürfte. Welch ein Labyrinth!

Diese Kritik wird durchaus auch in der Bundesregierung gesehen. Das halbe Bundeskabinett – von Umweltminister Gabriel (SPD) bis Wirtschaftsminister Glos (CSU) – ballt die Faust in der Tasche. Aber nach außen heißt es vor allem: An diesem Paket wird nicht mehr gerüttelt. Den Abgeordneten im Bundestag und auch den Skeptikern auf Länderseite wird die Pistole auf die Brust gesetzt, öffentlicher Diskurs wird für unerwünscht erklärt.

Intransparenz und Zersplitterung sind symptomatisch für die Reform der Bund-Länder-Beziehungen

Offensichtlich geht es kaum noch um die Wirkungen der „Mutter aller Reformen“, sondern in erster Linie um das Symbol: Die große Koalition beweist ihre Handlungsfähigkeit, indem sie die lang erwartete Föderalismusreform endlich umsetzt. Der konkrete Inhalt ist inzwischen drittrangig geworden. Die ursprünglichen Ziele sind von Machtpolitikern wie Müntefering, dem es nur noch um sein gemeinsames Denkmal mit Merkel und Stoiber geht, offensichtlich schon abgeschrieben.

Doch man sollte die Schuld nicht allein bei der Politik suchen, letztlich werden Müntefering und Co auch von den Medien in diese Rolle gedrängt. Ein so komplexes und abstraktes Projekt wie die Föderalismusreform lässt sich offensichtlich kaum noch für ein breiteres Publikum aufbereiten.

Stattdessen fokussieren Kommentatoren und Leitartikler ganz auf die Machtfrage: Bekommen Müntefering und Co die Föderalismusreform durch oder nicht? Jeder Kritiker wird da zum Blockierer, auch berechtigte Einwände werden vor allem als Störfaktoren für das vermeintlich gute große Ganze eingestuft.

Spätestens nach dem Ende der großen Koalition werden aber alle sehen, dass diese Reform ein Schuss in den Ofen war. Und dann wird es in ein paar Jahren eine neue Föderalismusreform geben. Die Ziele sind ja bekannt.

CHRISTIAN RATH