Fünf Euro brutto die Stunde sind rechtswidrig

Urteil des Sozialgerichts Berlin: Arbeitslose müssen einen Vollzeitjob mit einem Entgelt unterhalb des Existenzminimums nicht annehmen. Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II legen Untergrenze fest. Geteilte Reaktionen

BERLIN taz ■ Arbeitslose, die für fünf Euro die Stunde putzen oder Regale auffüllen sollen und diese Jobs ablehnen, können sich jetzt auf ein richterliches Urteil in Berlin berufen, das diese Entgelte für rechtswidrig erklärte. Wer von der Arbeitsagentur ein Stellenangebot mit einem Lohn unterhalb der Sozialhilfe bekäme, müsse dieses nicht annehmen, urteilten die Richter am Sozialgericht Berlin. Arbeitsagenturen dürften gegen Erwerbslose auch keine entsprechenden Sanktionen verhängen.

Geklagt hatte eine 44-jährige Alleinerziehende mit zwei jugendlichen Söhnen, die im Sommer 2004 einen Vollzeitjob als Hauswirtschaftshilfe bei einer Zeitarbeitsfirma zum tariflichen Bruttostundenlohn von 5,93 Euro abgelehnt hatte. Die Berliner Richter begründeten ihre Entscheidung damit, dass das Entgelt gegen die Grundrechte der Menschenwürde sowie gegen die Vorgaben der Europäischen Sozialcharta verstoße. Mit der Sozialhilfe und dem Arbeitslosengeld II habe der Gesetzgeber eine Grenze für das Existenzminimum gezogen.

Das Urteil sei „bedenklich“, sagte Hilmar Schneider vom Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit der taz. Schneider wies darauf hin, dass Arbeitslose in jedem Fall durch die Aufnahme auch von niedrig entlohnten Tätigkeiten mehr Geld zur Verfügung haben als das Existenzminimum. Denn aufgrund der Hinzuverdienstregelungen bleiben bis zu 310 Euro anrechnungsfrei. Diese Personen beziehen dann zusätzlich aufstockendes Arbeitslosengeld II.

Als „wichtigen Schritt “ wertete hingegen Harald Thomé vom Wuppertaler Selbsthilfeverein Tacheles die Entscheidung. Es sei richtig von der Justiz, bei den Löhnen eine „Grenze nach unten“ zu ziehen.

Das Berliner Urteil kann noch angefochten werden. Die Berliner Richter stützten ihre Entscheidung unter anderem auch auf ein Urteil des Sozialgerichts Fulda. Dort entschieden die Richter, dass der Beschäftigte einer Pizzeria, der im Jahre 2002 zu einem Bruttostundenlohn von 4,10 Euro gearbeitet hatte, „sittenwidrig“ entlohnt worden war. Deshalb durfte er seinen Job selbst kündigen, ohne vom Arbeitsamt eine Sperrzeit zu bekommen. Die Sittenwidrigkeit wurde auch damit begründet, dass dieser Lohn bei einer Vollzeittätigkeit „unter dem Sozialhilfeniveau für eine alleinstehende Person“ liege.

Das Bundesarbeitsgericht hatte 2004 in einem anderen Fall gegensätzlich geurteilt. Man dürfe nicht auf einen bestimmten Abstand zwischen Lohn und Sozialhilfe abstellen, um die Sittenwidrigkeit eines Lohnes zu belegen, meinten die Richter. Der Wert der Arbeitsleistung und nicht die Höhe der Sozialhilfeansprüche entscheide, ob zwischen Arbeitsleistung und Entgelt ein Missverhältnis bestehe.

Das Urteil des Berliner Sozialgerichts bezieht sich noch auf die Sozialhilfe im Jahre 2004. Übertragen auf heute, wären laut dem Urteil Bruttostundenlöhne von rund fünf Euro rechtswidrig, weil diese bei einer Vollzeittätigkeit nur 640 Euro netto ergeben. Empfänger des Arbeitslosengeldes II in Großstädten mit hoher Miete bekommen jedoch mehr Sozialleistung.

BARBARA DRIBBUSCH