Bevölkerungsdämmerung

Der Sozialstaat ist übrigens schuld am Geburtenrückgang: Herwig Birg malt ein düsteres Bild der deutschen Gesellschaft – „Die ausgefallene Generation“

VON ULRIKE WINKELMANN

Niemand ist zu Optimismus verpflichtet. Auch und erst recht kein konservativer Demograf, der sein Leben lang über Kurven und Statistiken brütet und feststellen muss, dass nichts bleibt, wie es ist. Doch das Buch, das nun der Bielefelder Emeritus Herwig Birg vorgelegt hat, ist an Düsternis wirklich schwer zu überbieten. Der Titel des letzten Kapitels fasst die Aussage zusammen: „Es ist dreißig Jahre nach zwölf.“ Der letzte Satz handelt sogar davon, dass selbst der Tod noch tröstlicher ist als das Altern und Schrumpfen der deutschen Bevölkerung.

Vor mittlerweile weit über dreißig Jahren – um das Jahr 1968 herum – wurden in Deutschland recht plötzlich weniger Kinder geboren. Die Geburtenrate fiel nach einem steilen Nachkriegsanstieg binnen wenigen Jahren noch steiler wieder ab. Der Begriff „Pillenknick“ beschreibt den Vorgang übrigens nur unzureichend. Neue Verhütungsmittel waren nur ein Grund von vielen für das OECD-länderweite Phänomen. Herwig Birg war über Jahre fast der einzige Wissenschaftler, der laut vor den Folgen des demografischen Wandels warnte. Schon in den 1990er-Jahren rief er, die Sozialsysteme würden zusammenbrechen, wenn immer weniger Junge für immer mehr Alte zahlen müssten. Die Einwanderung könne das Problem nicht lösen. Ideologisch raffiniert war Birgs Kniff, Furcht erregende Zahlen an notwendigen Immigranten zu nennen, sollten die Deutschen sich nicht freiwillig selbst vermehren.

Doch erst 2002 zündete das Thema wirklich. Demografie, Angst und Alterung waren in aller Munde. Rot-Grün nutzte diesen Komplex als Legitimationsfolie für den Umbau des Sozialstaats. Damit war freilich Birgs Diskursherrschaft gebrochen. Außerdem wurde auch die Gegenbewegung ausgelöst. Ihre Parole: „Altern als Chance“. Die Argumentation: Die Alterung löse das Problem der Arbeitslosigkeit von selbst. Letztlich werde der Produktivitätsfortschritt die Alterskosten bewältigen.

Nichts da, erklärt nun Birg in seinem neuen Band „Die ausgefallene Generation“. Darin ist eine FAZ-Artikelserie von Anfang 2005 zu einem zahlengeladenen Rundumschlag ausgebaut, der vor allem in die wissenschaftlichen und historischen Grundlagen der Demografie einführen, aber auch die politischen und ökonomischen Konsequenzen des demografischen Wandels ausleuchten will. Über die recht unverbundenen Kapitel hinweg fällt dabei vor allem eine These auf: Der Sozialstaat ist schuld. Birg ist der Meinung, dass die gesetzliche Rentenversicherung der wichtigste einzelne Grund für den Geburtenrückgang ist. Wem das Alter bezahlt wird, der macht keine Kinder, sondern widmet sich dem Ausleben seiner „Selbstverwirklichungsideologie“.

Denn die Geburtenzahl in Deutschland hat schon „etwa zeitgleich mit der Einführung der kollektiven Alterssicherung durch Bismarck“ am Ende des 19. Jahrhunderts zu sinken begonnen. Das kurze Nachkriegshoch brach ab, als die umlagefinanzierten Alters- und Gesundheitssysteme auf breitere Füße gestellt wurden. In den USA dagegen, wo der Staat nur eine Hungerverhinderungsrente auszahlt, gibt es genügend Nachwuchs. Jetzt müssen die Deutschen erleben, dass ihre Wirtschaft von den US-Pensionsfonds ausgesaugt wird, während ihnen sowohl die Kinder als auch das Kapital fehlen, die Kosten des eigenen Alters zu tragen.

Zur Rahmenhandlung für dieses Trauerspiel gehört eine Reihe Zusatzkomponenten – und sie rücken die immerhin originelle zentrale Behauptung in sehr zweifelhaftes Licht. So beschränkt sich Birgs wirtschaftliche Analyse darauf, die allerdings nur bis zur letzten Bundestagswahl aktuelle Untergangspropaganda des Arbeitgeberlagers zu wiederholen.

Stets stellt Birg außerdem darauf ab, dass nur die relativ höhere Fertilität der Zuwanderer die katastrophal gesunkene Fertilität der Deutschstämmigen noch statistisch relativiere. Die nichtdeutsche Bevölkerung bleibt bei Birg ewig nichtdeutsch und zudem eine Last für die Sozialsysteme. Er erkennt ihr keinerlei Integrations-, also Bildungs-, sprich Produktivitätschancen zu – und das ist bei ihm kein zynischer Kommentar zum deutschen Schulsystem.

Von Birgs eigener Zunft angezweifelt wird längst das Mantra vom „Drittel“ kinderloser Frauen. Entgegen allen zur Vorsicht mahnenden jüngeren Studienergebnissen bleibt Birg bei der These von der weltweit höchsten Kinderlosenrate. Er braucht diesen alarmistischen Superlativ, um die Einzigartigkeit der Bedrohung Deutschlands auszumalen. Doch will Birg ja aufklären. Er will der Öffentlichkeit die notwendigen Daten an die Hand geben, sich selbst ein Bild zu machen. Dabei verrührt er jedoch sein sicherlich gut gerechnetes Material mit einem Kleister an einseitigen volkswirtschaftlichen Vorstellungen, spürbarer Wut auf die jüngere wissenschaftliche Konkurrenz und konservativem Setzkastendenken. Möglicherweise ist Birgs „Bevölkerungsdämmerung“ doch eher seine persönliche Professorendämmerung.

Herwig Birg: „Die ausgefallene Generation. Was die Demographie über unsere Zukunft sagt“. C. H. Beck, München 2005,158 Seiten, 16,90 Euro