Anmaßung des Nordens

WELTHANDEL Das neue transatlantische Abkommen soll die Schwellenländer in die Schranken verweisen. Die werden nämlich immer mächtiger

■ ist Wirtschaftspublizist und Herausgeber des „Informationsbriefs Weltwirtschaft & Entwicklung“ (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

Die geplante Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) zwischen den USA und Europa ist der Versuch, eine neue Liberalisierungswelle auszulösen. Denn nach fast zwölf Jahren steckt die alte Doha-Entwicklungsrunde der Welthandelsorganisation (WTO) in einer Sackgasse fest. Erneut bricht sich die alte Besessenheit von Wachstum und Freihandel Bahn. Die war selbstverständlich nie wirklich weg, wurde aber dank veränderter Kräfteverhältnisse in der WTO erheblich abgedämpft.

Der lästige Süden

Die entscheidende Herausforderung, vor allem auch für die nicht beteiligten Länder, besteht darin, dass auf diesem Weg ein neues Regelsystem der Weltwirtschaft aufs Gleis gesetzt werden soll. Da der Güterhandel bereits weitgehend liberalisiert ist, wird nun im Wesentlichen über die Beseitigung sogenannter nichttarifärer Handelshemmnisse verhandelt: die Anpassung und Harmonisierung von Standards und Normen, über neue Regeln für grenzüberschreitende Investitionen, über Fragen des Wettbewerbs, der öffentlichen Auftragsvergabe, Dienstleistungen oder geistiges Eigentum. Also über Fragen, bei denen der Westen bereits beim Multilateralen Investitionsabkommen (MAI) in der OECD und zuletzt auch in der WTO teilweise gescheitert ist.

Dass jetzt außerhalb der WTO verhandelt wird, macht einen Unterschied ums Ganze: Es erlaubt, die lästigen Widersacher aus dem Süden, die sich in der WTO zuletzt recht effizient organisiert hatten, auf Distanz zu halten. Und man ist nicht gezwungen, dem multilateralen Regelwerk zu folgen, wie es in der WTO zumindest dem Anspruch nach herrscht. Dennoch wird das neue System, so es zustande kommt, vom Anspruch her global sein, wobei seine Regeln von den Interessen der Wirtschaftsblöcke des Nordens gesetzt werden. Das ergibt sich schon aus dem schieren ökonomischen Gewicht der an den Verhandlungen beteiligten Länder. Der Rest der Welt soll dann nach dem Motto „Friss oder stirb!“ im Nachhinein unterzeichnen – oder auch nicht.

Dieser globale Anspruch, besser die globale Anmaßung, steht heute aber im Gegensatz zu grundlegenden Verschiebungen im ökonomisch-politischen Kräfteverhältnis. Immer stärker vernetzen sich gerade die Schwellenländer zu eigenen Formationen, die die internationalen Beziehungen mitbestimmen. Sogar aus einer Abkürzung, die ein US-amerikanischer Investmentbanker in die Welt setzte, haben die Brics (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) inzwischen ein Instrument zur Vertretung eigenständiger Interessen gemacht.

Das Freihandelgetöse

Zwar ist der Weg zu neuen ökonomischen Integrationsverbünden im Süden nicht frei von Rückschlägen und Problemen, trotzdem ist der Süd-Süd-Handel heute das am dynamischsten wachsende Element des gesamten Welthandels. Daher ist es kaum vorstellbar, dass die Mitgliedsländer der neuen Allianzen des Südens die einseitige Regelsetzung des Westens einfach so hinnehmen werden. Die TTIP-Initiative lässt sich nämlich auch als Antwort des Nordens auf den Machtzuwachs der neuen Handelspartner interpretieren.

Auch die sogenannten Entwicklungsländer stellen das bereits geltende Regime für grenzüberschreitende Investitionen wieder infrage. Das zeigt die neue Koalition lateinamerikanischer Staaten gegen die zunehmenden Schadenersatzklagen transnationaler Konzerne gegen Gesetzesregeln in den Gastländern vor internationalen Schiedsgerichten.

Der globale Anspruch der neuen Offensive des Westens sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das damit einhergehende Freihandelsgetöse in Wirklichkeit hochgradig von Doppelstandards geprägt wird. Schon die WTO-Verhandlungen gerieten deshalb ins Stocken, weil sich die USA und die EU weigerten, die Agrarsubventionen zu streichen – für die Entwicklungsländer, wo über 70 Prozent direkt oder indirekt von der Landwirtschaft abhängig sind, eine elementare Bedingung, um überhaupt von „Entwicklungsrunde“ reden zu können.

Niemand sollte glauben, dass die TTIP- oder TPP-Verhandler nach anderen Werten verfahren würden, wenn es um eingemachte Interessen geht. Wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz kürzlich anmerkte, geht es den Protagonisten um die Schaffung eines „gesteuerten Handelssystems“, das den Partikularinteressen folgt, die die westliche Handelspolitik schon seit Langem bestimmen. Dabei wird man genau beobachten müssen, wie sich insbesondere drei Interessenblöcke artikulieren werden: die Finanzindustrie, die Pharma- und Chemielobby und nicht zu vergessen natürlich die IT-Branche.

Alles so hübsch im Geheimen

Entscheidend ist, wie sich die Finanzindustrie, die Pharma- und Chemielobby und die IT-Branche positionieren werden

Während der IT-Branche und vor allem den Hollywoodmedien jede „exception culturelle“, wie sie die Franzosen wollen, ein Dorn im Auge ist, versucht die Pharmalobby derzeit alles, um die von der WTO den ärmeren Ländern beim geistigen Eigentum eingeräumte Ausnahmeregelung wieder rückgängig zu machen. Das betrifft vor allem das Recht zur Produktion billiger Generika und entscheidet damit nicht selten über Leben und Tod von vielen Menschen.

Die Finanzindustrie wiederum ist nach der Finanzkrise erneut fieberhaft bemüht, Regulierungen, etwa bei Finanzdienstleistungen, möglichst lasch zu halten beziehungsweise nach eigenem Gutdünken zu gestalten. (Ein bilaterales Handelsabkommen der USA mit Chile hinderte das südamerikanische Land schon einmal an der Anwendung von Kapitalverkehrskontrollen, obwohl selbst der IWF diese nicht mehr rundheraus ablehnt.)

Das also ist in etwa das Terrain, auf dem sich die mit dem TTIP eröffnete neue Freihandelsoffensive in den nächsten Monaten und Jahren abspielen wird.

Dass diese Auseinandersetzung weitgehend im Geheimen stattfindet, macht die Sache nicht besser. Denn wie sollen sich die Interessen der Mehrheiten innerhalb und außerhalb der Handelsblöcke gegen die Dominanz von Wirtschaftsinteressen durchsetzen, wenn nicht einmal die Verhandlungsmandate öffentlich zugänglich sind? Whistleblower, bitte an die Arbeit! RAINER FALK