Niemals von Schuld erlöst

Freud las in den Religionen – und erkannte Trauma, Schuldbewusstsein und Spuren von Mord wie Totschlag. Was daran aber war spezifisch jüdisch, was universalistisch?

VON MICHA BRUMLIK

1Ressentiment oder wissenschaftsgeschichtliches Problem? Sowenig am jüdischen Selbstverständnis des Begründers der Psychoanalyse zu zweifeln ist, so sehr wird die Wissenschaftsgeschichte von der Frage umgetrieben, ob die Psychoanalyse eine „jüdische Wissenschaft“ sei – eine Frage, die keineswegs nur Antisemiten beschäftigt hat und beschäftigt.

Aus der Tatsache, dass mit einer Ausnahme alle Schüler Freuds der ersten Generation Juden waren, sind daher weitreichende Schlüsse bezüglich einer Wahlverwandtschaft der kabbalistischen beziehungsweise talmudischen Denkweise mit der der Psychoanalyse eigenen Hermeneutik gezogen worden. Andere sahen in den Konzepten des Unbewussten beziehungsweise der Bisexualität Anklänge an kabbalistische Gottesvorstellungen, während wieder andere Freuds Werk vor allem als Verarbeitung selbst gemachter antisemitischer Erfahrungen deuteten.

Freud hat sich selbst zur Frage seiner jüdischen Identität deutlich geäußert, als er 1930 ein Vorwort zur hebräischen Ausgabe von „Totem und Tabu“ verfasste. „Keiner der Leser dieses Buches“, so adressiert der in Wien lebende Freud eine kleine Gemeinde jüdischer Intellektueller im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina, „wird sich so leicht in die Gefühlslage des Autors versetzen können, der die heilige Sprache nicht versteht, der väterlichen Religion – wie jeder anderen – völlig entfremdet ist, an nationalistischen Idealen nicht teilnehmen kann und doch“, so der bekenntnishafte Schluss, „die Zugehörigkeit zu seinem Volk nie verleugnet hat, seine Eigenart als jüdisch empfindet und sie nicht anders wünscht.“

Doch als ob ihm diese Bekenntnisse leid täten, schließt Freud unmittelbar eine Bemerkung an, mit der er sich wohl von jedem Verdacht des jüdischen Partikularismus befreien und deutlich machen will, dass jedenfalls seine Wissenschaft keine „jüdische“ Wissenschaft ist: „Ein Buch überdies“, so erläutert er, ein Werk, das in der lebendigen Sprache des jüdischen Volkes zu lesen ist, „das den Ursprung von Religion und Sittlichkeit behandelt, aber keinen jüdischen Standpunkt kennt, keine Einschränkung zugunsten des Judentums macht. Aber der Autor hofft“ – und hier vollzieht Freud eine letzte Kehre –, „sich mit seinen Lesern in der Überzeugung zu treffen, dass die voraussetzungslose Wissenschaft dem Geist des neuen Judentums nicht fremd bleiben kann.“ Mehrere Jahre später wird sich Freud in seiner letzten großen Schrift über den „Mann Moses“ dem Wesen des Judentums, seines Judentums auch, systematisch zuwenden.

2Freuds Theorie des Judentums: Fortschritt in der Geistigkeit Freud nimmt in jener Schrift nicht weniger in Angriff als eine Theorie des jüdischen Volkes und damit auch seiner eigenen jüdischen Existenz. Dazu bedient er sich – wenngleich in eingestandenermaßen spekulativer Weise – neuester bibelwissenschaftlicher Erkenntnisse sowie einer ebenfalls neuartigen Theorie transgenerationaler Traumatisierung und transgenerationaler Übermittlung geistiger Gehalte.

Freud unterstellt, dass der Moses der biblischen Bücher in Wahrheit auf zwei historischen Gestalten beruht: einem tatsächlich ägyptischen Mann sowie einem gleichnamigen, aber zeitlich späteren hebräischen Führer. Moses den Ägypter stellt Freud als Gesetzgeber und Erzieher dar, der die Juden „in den Dienst einer neuen Religion zwang“. Schon die Religion des ägyptischen Aton stand in krassem Gegensatz zur bisherigen ägyptischen Religion, der es vor allem darauf angekommen sei, neben der Vielfalt der vegetativen Erscheinungen eine Antwort auf die Problematik des Todes zu finden, die im strengen Monotheismus keinen Raum hatte.

Dem ägyptischen Erzieher und Gesetzgeber „Moses“ folgte ein Volksführer, der zwischen dem ausgewanderten Volk Israel und einem midianitischen Gott vermittelte. Freud sieht in dem historisch verbürgten Aufstand der polytheistischen Ägypter gegen den Kult des Sonnengottes Aton und im nur postulierten Aufstand der Juden gegen den von Moses proklamierten einzigen Gott parallele Vorgänge: „Das Judenvolk des Moses war ebenso wenig imstande, eine so hoch vergeistigte Religion zu ertragen, in ihren Darbietungen eine Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu finden, wie die Ägypter der 18. Dynastie.“

Mithin soll diese frühe kollektive Tat der Juden, der Mord an ihrem fremden Gesetzgeber, bei ihnen ein Trauma hervorgerufen haben, das wesentlich zur Ausprägung jener Eigenschaften geführt hat, die Freud noch zu seiner Zeit als typisch jüdisch gelten: nämlich eine auf Triebbefriedigung weitgehend verzichtende, geistige Existenzform. Von den „armen jüdischen Fronarbeitern“ behauptet er, dass sie von der Vorstellung eines einzigen, allgewaltigen Gottes überwältigt gewesen seien und zudem Züge dieses Gottes in Moses dem Ägypter gefunden hätten – vor allem dessen „Zornmütigkeit und Unerbittlichkeit“. Und wenn sie dann einmal – so rundet Freud sein Argument ab – diesen ihren großen Mann erschlugen, so wiederholten sie nun eine Untat, die sich in Urzeiten als Gesetz gegen den göttlichen König gerichtet hatte.

Die Wirkung von Mord, Trauma, Latenz und nachträglicher Wiederaneignung der Ideen des Ermordeten führt endlich, im Laufe von Jahrhunderten, zu jenem besonderen „Fortschritt in der Geistigkeit“, den das jüdische Volk in besonderer Weise verkörpert: „Der Vorrang“, so erläutert Freud seine These, „der durch etwa zweitausend Jahre im Leben des jüdischen Volkes geistigen Bestrebungen eingeräumt war, hat natürlich seine Wirkung getan; er half, die Rohheit und die Neigung zur Gewalttat einzudämmen, die sich einzustellen pflegen, wo die Entwicklung der Muskelkraft Volksideal ist.“

Das von Freud spät entdeckte, im Gegensatz zum „Muskeljudentum“ stehende jüdische Bildungsideal aber besteht letztendlich in nichts anderem als einem auf Triebverzicht beruhenden „Fortschritt in der Geistigkeit“, der trotz härtester Entbehrungen am Ende das friedliche Zusammenleben der Menschheit eher garantiert als ein freies Ausleben der Triebe.

Dieser Triebverzicht, der im Lauf der kulturellen Entwicklung von den Juden erst zurückgewiesen, dann nach langer Latenzzeit ins kollektive Unbewusste übernommen wurde, übersprang schließlich die Grenzen des Judentums und wurde – als „Fortschritt in der Geistigkeit“ und über das Christentum zu einem bedeutenden Moment der abendländischen Zivilisation.

3Freuds Theorie des Christentums: wahnhafte Schuldverdrängung. Erklärungsbedürftig ist also nicht nur, warum das Judentum entstand und – vor allem – sich als Volk über die Jahrtausende erhielt, sondern warum es eine „Tochterreligion“ ausbilden konnte, die das Schuldgefühl des Judentums zwar teilte, dies Schuldgefühl jedoch schließlich gegen die Juden selbst wendete.

Es verwundert wenig, dass in diesem Zusammenhang der Apostel Paulus auftaucht – eine Gestalt, die Freud bereits Jahre zuvor als Urheber eines umfassenden Konzepts der Liebe aufgefallen war. Freuds Interesse für den Völkermissionar entsprang dessen theologischer und systematischer Bedeutung – man darf darin auch eine identifikatorische Anteilnahme erkennen –, ist Paulus doch genau das gelungen, wonach Freud letztlich auch strebte: die universalistischen Gehalte des Judentums nicht nur schärfer zu konturieren, sondern auch zu verbreiten.

In einem Brief attestiert Freud dem Apostel Paulus, das vom jüdischen Volk ausgehende Schuldbewusstsein „richtig auf seine urgeschichtliche Quelle“ zurückgeführt zu haben. Damit ernennt Freud Paulus zu einem Vorläufer seiner selbst. Der Kern dessen Denkens habe in einer Einsicht bestanden: „Wir sind so unglücklich, weil wir Gottvater getötet haben. Und es ist überaus verständlich“, erklärt Freud nachsichtig, „dass er dies Stück Wahrheit nicht anders erfassen konnte als in der wahnhaften Einkleidung der frohen Botschaft: Wir sind von aller Schuld erlöst, seitdem einer von uns sein Leben geopfert hat, um uns zu entsühnen.“

Die christliche, die paulinische Religion beinhaltet somit zwei wesentliche Inhalte – den Monotheismus sowie die verdrängte Erinnerung an den diesen Monotheismus ermöglichenden Vatermord, die in der „Frohen Botschaft“ in der Zweiheit von Erbsünde und Erlösung entstellt wurde.

Paulus, der Freud noch 1912 in einer früheren Schrift als ein „zu starrer Jude“ erschien, kehrt 1938 als ein Mann wieder, der – wenn auch nicht ausdrücklich – das jüdische Schuldbewusstsein erkannt habe. In einer Skizze der weltgeschichtlichen Verbreitung des Schuldbewusstseins stellte Freud fest, dass die Klärung der bedrückten Situation vom Judentum ausgegangen sei. Doch „war es ein jüdischer Mann Saulus aus Tarsus“, der sich als römischer Bürger Paulus nannte, in dessen Geist zuerst die Erkenntnis durchbrach: Wir sind so unglücklich, weil wir Gottvater getötet haben.

Das nach Freuds Überzeugung von Paulus gegründete Christentum aber bleibt seiner „Vaterreligion“ ambivalent verbunden – aus ihr hervorgegangen, so Freud, wurde es zu einer Sohnesreligion: „Dem Verhängnis, den Vater beseitigen zu müssen, ist es gleichwohl nicht entgangen.“

4Eine freudianische Theorie des Islam? Was Freud wohl zum Islam, dem Koran und dem Propheten Mohammed gesagt hätte? Die Logik der im „Mann Moses“ entfalteten Argumentation erzwingt es geradezu, sich diese Frage zu stellen, beanspruchen doch der sich im Koran offenbarende Gott und sein Prophet gleichermaßen, mit ihrer Botschaft die wahre Uroffenbarung, die Juden und Christen verdorben hätten, wieder zur Geltung zu bringen.

Der Logik des „Mann Moses“ gemäß hätten wir es im Islam nicht mit einer Sohn- oder Tochterreligion des Judentums zu tun, sondern mit einer Enkelreligion, genauer: einer Urenkelreligion, deren Vertreter sich auf eine unbefleckte, reine Gründergestalt, Abraham, beziehen. So wie Judentum und Christentum in ihren Religionen ein je eigenes, auf spezifische Verdrängung zurückgehendes Gewaltpotenzial enthalten, ist das auch im Islam der Fall, wo sich dieses Gewaltpotential zwiefach äußert. Zum einen in seiner grundsätzlichen Einstellung, die gute Vergangenheit wiederzubeleben. Das war im christlichen Europa der Jahrhundertwende das Programm der „Konservativen Revolution“, deren Schlagwort lautete: „Ursprung ist das Ziel!“

Diese keineswegs notwendig in Gewalt mündende Formel findet freilich ihren Katalysator in der Gestalt eines historischen Stifters, für den das Führen von Kriegen nicht nur ein legitimes Mittel zur Selbstverteidigung, sondern auch zur Verbreitung des Glaubens war. Was dem Judentum über zwei Jahrtausende bis zur Gründung des Staates Israel ob seiner politischen Ohnmacht erspart blieb und sich in den regelmäßig wiederkehrenden Blutorgien der christlich-abendländischen Kultur trotz (oder gerade wegen) aller Liebesbotschaften äußerte, nahm im Islam, der sich in den ersten Jahrhunderten erklärtermaßen und guten Gewissens kriegsförmig verbreitete, eine andere, noch nicht verstandene Form an.

Auf der Tagesordnung steht demnach eine allenfalls in Ansätzen vorhandene Analyse, eine Psychoanalyse des Islam, seiner Hauptschriften und seiner wesentlichen historischen Protagonisten und Protagonistinnen.

Davor muss niemand Angst haben. Es ist eine sozialwissenschaftliche Selbstverständlichkeit, dass von den Befunden aus keine Schlüsse auf die Befindlichkeiten von Muslimen zu ziehen sind, die neben ihrem Glauben – wie wir alle – vielfältigsten anderen Einflüssen unterliegen.

MICHA BRUMLIK, geb. 1947, Erziehungswissenschaftler, war bis September 2005 Direktor des Fritz-Bauer-Instituts, Frankfurt am Main Brumliks Text basiert auf seinem in diesen Tagen erscheinenden Buch „Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts“. Beltz-Verlag, Weinheim 2006, 280 Seiten, 22,90 Euro. Am 15. März wird es im Jüdischen Museum, Lindenstr. 9–14, 10969 Berlin, um 20 Uhr vorgestellt