Recht auf Bildung: Die Debatte beginnt

Der Besuch des UN-Sonderberichterstatters für Bildung, Vernor Muñoz, war ein Erfolg. Denn er lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass Deutschlands Schulen nicht allen Menschenrechtsstandards gewachsen sind

„Deutschland ist gehalten, strukturelle Diskriminierungen seines Schulsystems durch gezielte Reformen zu überwinden“

Die Visite des UN-Sonderberichterstatters Vernor Muñoz Villalobos schaffte es bis in die „Tagesschau“. Das belegt, welche Wirkung das Menschenrechtssystem der Vereinten Nationen dort entfalten kann, wo sich eine kritische Öffentlichkeit dafür interessiert. Befremdlich ist allerdings der Tenor vieler Kommentare. Abwehrreflexe gegenüber dem „UN-Bildungsinspekteur“, wie Muñoz fälschlich genannt wurde, waren oft unübersehbar. Dass ein „UN-Sheriff“, der ausgerechnet aus dem fernen Costa Rica kommt – so die verächtliche Diktion –, allen Ernstes menschenrechtliche Kritik gegenüber Deutschland vorbringen könnte, erschien manchen Leitartiklern geradezu ehrenrührig zu sein.

Der Sonderberichterstatter zum Recht auf Bildung zählt zu den gut 30 thematischen Berichterstattern, welche die Menschenrechtskommission ernannt hat. Deutschland hat wie die meisten europäischen Staaten eine „standing invitation“ an sämtliche BerichterstatterInnen ausgesprochen. Das signalisiert prinzipielle Unterstützung für dieses UN-Berichtssystem. Insofern gibt es wohl kein simples Reiz-Reaktions-Muster zwischen dem Besuch von Muñoz und den Ergebnissen der Pisa-Studie, die den hoch selektiven Charakter des deutschen Bildungssystems herausgestellt hat. Aber es ist davon auszugehen, dass der Sonderberichterstatter über die deutschen Pisa-Ergebnisse sehr gut informiert ist.

Zum Recht auf Bildung, das Deutschland durch die Ratifizierung internationaler Konventionen wie dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte oder die Kinderrechtskonvention anerkannt hat, gehört der diskriminierungsfreie Zugang zu Bildung. Spätestens seit Pisa wissen wir, dass Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien, vor allem wenn sie außerdem einen Migrationshintergrund aufweisen, im deutschen Schulsystem erheblich benachteiligt werden. Zum Beispiel verlassen sie die Schule überproportional häufig ohne Abschluss und haben – selbst bei angemessenen Leistungen – Schwierigkeiten, ins Gymnasium oder eine andere „höhere“ Schule zu wechseln. Aus der Perspektive des Menschenrechts auf Bildung ist dies inakzeptabel. Deutschland ist deshalb gehalten, will es sich an seine Verpflichtungen halten, strukturelle Diskriminierungen seines Schulsystems durch gezielte Reformen zu überwinden und dafür alle verfügbaren Mittel einzusetzen.

Besonders dramatisch ist die Lage von Kindern und Jugendlichen, die am Schulbesuch gehindert sind – zum Beispiel weil sie oder ihre Eltern ohne legalen Aufenthaltstitel in Deutschland leben. Dass auch für sie das Menschenrecht auf Bildung gilt, ist zwar theoretisch weithin anerkannt, bleibt aber praktisch vielfach folgenlos. Das Problem besteht darin, dass Menschen ohne legalen Aufenthaltstitel damit rechnen müssen, abgeschoben zu werden, sobald sie von den staatlichen Behörden entdeckt werden. Außerdem geraten Verantwortliche in Kindergärten und Schulen, die wissentlich Kinder ohne Papiere aufnehmen, in die Gefahr, wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt strafrechtlich verfolgt zu werden. Ein Staat, der das Recht auf Bildung ernst nimmt, muss an dieser Stelle aktiv werden – zum Beispiel zur Abschaffung von Meldepflichten gegenüber den Ausländerämtern. Zwar haben die Staaten das Recht, gegen irreguläre Migration vorzugehen; sie müssen dabei aber den Vorrang des Menschenrechts auf Bildung beachten, das nicht zum Kollateralschaden staatlicher Einwanderungskontrolle geraten darf.

Um sich ein Bild davon zu machen, wie es um die Verwirklichung des Rechts auf Bildung hierzulande steht, ist der Sonderberichterstatter naturgemäß auf die Expertise von Fachleuten aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft angewiesen. Der Zeitplan des Besuchs hat dafür leider zu wenig Gelegenheit geschaffen, vor allem für Gespräche mit Nichtregierungsorganisationen war wenig Zeit reserviert. Die vielleicht wichtigste Funktion des Besuchs besteht indessen darin, dass man hierzulande überhaupt begonnen hat, Defizite des Bildungssystems mit Bezug auf die Menschenrechte zu diskutieren. Dies ist in Deutschland neu. Deshalb wird man jetzt schon sagen können, dass sich die Visite des Sonderberichterstatters gelohnt hat. HEINER BIELEFELDT

Der Autor ist Philosoph und leitet das Institut für Menschenrechte