Definitiv eine pink Sieben

WAHRNEHMUNGSFRAGEN Manche Menschen können Farben hören oder sehen zum Beispiel Grün als ein rotes Wort. Mit einer Tagung und einer Ausstellung untersucht das Art Laboratory Berlin das Phänomen der Synästhesie

VON CATARINA VON WEDEMEYER

Welche Farbe hat ein Orgasmus? Wie schmecken Stimmen? Wo im Raum befinden sich die Zahlen? Solche Fragen stellt die dänische Künstlerin Ditte Lyngkær Pedersen ihren Interviewpartnern für ihr Projekt mit dem Titel: „Warum ist Grün ein rotes Wort?“ Je nachdem welche Sinne bei ihnen simultan funktionieren, können die Synästhetiker mit größter Selbstverständlichkeit darauf antworten. So kann ein Name dunkelgrün sein, eine Stimme an den Rändern „wattig aussehen“ oder nach mediterranem Nachtisch schmecken. Für die Künstlerin selbst ist die Sieben definitiv pink und links neben dem Ohr.

Zu sehen ist „Warum ist Grün ein rotes Wort?“ in der Ausstellung „Translating, Correcting, Archiving“, mit der das Art Laboratory Berlin dem Thema Synaisthesia (aus dem griechischen syn: zusammen, und aisthesis: sinnlicher Eindruck, Gefühl) nachgeht. Um möglichst viele Aspekte dieses Phänomens mit den nach Nachtisch schmeckenden Stimmen oder der pink Sieben abzudecken, gab es am Wochenende auch eine Synaisthesia-Konferenz. Dazu hatten die Veranstalter Regine Rapp und Christian de Lutz nicht nur Neurologen eingeladen, sondern auch Künstler und Geisteswissenschaftler aus der ganzen Welt.

Ein Top-down-Phänomen

Hinderk Emrich, der Leiter der Medizinischen Hochschule Hannover, eröffnete die Tagung mit den neuesten Erkenntnissen seiner Forschung, nach denen Synästhesie ein Top-down-Phänomen sein könnte, also ein kreativer Prozess, vergleichbar dem Träumen in Farbe. Das Gegenstück dazu wären passive Bottom-up-Prozesse, mit denen das Gehirn beispielsweise feststellt, dass dem Körper Zucker fehlt. In der Tat konnten seine Mitarbeiter bei Synästhetikern eine höhere Aktivität im präfrontalen Cortex messen.

Es gibt verschiedene Theorien, warum bei manchen Menschen Sinne simultan funktionieren, die normalerweise getrennt wahrgenommen würden. Mal ist abwertend von einer „Fehlfunktion“ die Rede, andere Wissenschaftler gehen davon aus, dass jedes Kind mit der Fähigkeit auf die Welt komme, Klänge, Farben und Gerüche zu assoziieren, und dass diese Strukturen eben bei manchen Menschen verloren gehen und bei anderen nicht.

Bei den Schätzungen, wie viele Synästhetiker es gibt, gehen die Zahlen weit auseinander. Mal soll es jeder Dreihundertste sein oder auch nur einer unter 2.500. Jimi Hendrix war zum Beispiel Synästhetiker und auch Wassily Kandinsky. Viele Menschen wissen gar nicht, dass sie simultane Wahrnehmungen haben. Sie denken, es sei normal, dass sie sich das Jahr als einen Kreis um den Körper vorstellen oder als geschwungenen Bogen im Raum.

Für die Kuratoren des Art Laboratory, die sich bereits in mehreren Ausstellungen mit dem Thema beschäftigt haben, ist die Synästhesie auch ein Modell, mit dem es gelingen könnte, das multimediale 21. Jahrhundert zu verstehen. In der aktuellen Schau experimentieren die Künstler so mit digitalen Medien. Eva-Maria Bolz etwa hat Texte von Oscar Wilde in die Farben übersetzt, in denen sie sie sieht. Simultane Wahrnehmungen sind nicht nur nicht kontrollierbar, sie sind auch höchst individuell.

Wie viel subversives Potenzial die einzelnen Sinne haben, zeigte Eva Kimminich, Professorin für Romanistik in Potsdam. In ihrem Vortrag bei der Tagung gab sie einen Überblick über die Geschichte der fünf Sinne seit der Antike und zeichnete dabei die zunehmende Distanzierung von der sinnlichen Welt. Vor allem den Tastsinn versuchte die katholische Kirche so weit wie möglich zu unterdrücken. Dank Touchpad und auch Barfußpfaden geht es mittlerweile wieder in die andere Richtung, und der Alltag mit den Medien sei laut Hinderk Emrich sowieso immer „trans-inter-syn“, also ein gemischtes Angebot für die Sinne. Es fehle häufig nur das Bewusstsein dafür.

Und manchmal fehlen die Worte. Geruch zum Beispiel und auch der Geschmack wird so tief im Gehirn wahrgenommen, dass es schwierig ist, gleich Benennungen für die erlebten Eindrücke zu finden.

Etwas Psychedelisches

Genau diesen antiintellektuellen Aspekt wollten die Romantiker und die Symbolisten mit ihrer Kunst bestärken. Sie versuchten, ihrem Publikum direkte sinnliche Wahrnehmungen, Gefühle und Entgrenzung zu vermitteln – etwas, das über den normalen Alltag hinausgeht. Nichtsynästhetiker könnten also entweder träumen, Drogen nehmen oder mal Baudelaire lesen, um die Welt eines Synästhetikers nachzuvollziehen. Dass Diskussionen über die Farben der einzelnen Buchstaben für Außenstehende ziemlich „nerdy“ klingen können, weiß auch die Künstlerin Ditte Lyngkær Pedersen. Aber es ist ein psychedelisches „nerdy“.

■ „Translating, Correcting, Archiving“: Art Laboratory Berlin, Prinzenallee 34, bis 21. Juli, Fr.–So. 14–18 Uhr www.artlaboratory-berlin.org