Sie waren jung, jüdisch und links

GRUPPE BAUM Sie plakatierten Anti-Nazi-Poster und attackierten die NS-Propagandaausstellung „Das Sowjetparadies“. Am 4. März 1943 wurden neun von ihnen in Plötzensee hingerichtet. Der DDR war die Gruppe zu jüdisch, dem Westen war sie politisch suspekt

Eine Freundin sagt: „Wir hatten das Gefühl, dass uns nie etwas passieren kann“

VON STEFAN REINECKE

Joseph Goebbels schrieb am 28. Mai 1942 beunruhigt in sein Tagebuch, dass er „keine Lust habe, sich von einem 22-jährigen Ostjuden eine Kugel in den Bauch schießen zu lassen“. Hitler urteilte in einer Lagebesprechung am 29. Mai, dass „die Deutschen sich nur an subversiven Aktionen beteiligen, wenn sie von Juden dazu verführt werden“. Die Naziführung fürchtete damals ernsthaft eine Wiederholung der Novemberrevolution 1918, die im paranoiden Weltbild der Nazis ein von Juden angestifteter Dolchstoß war. Daher wurden im Mai 1942 Terrormaßnahmen beschlossen. Goebbels notierte in seinem Tagebuch, dass „der Führer mir erlaubt hat, 500 jüdische Geiseln zu verhaften“. 250 wurden sofort erschossen, 250 in Vernichtungslager deportiert.

Was die Naziführer Ende Mai 1942 so beschäftigte, war ein halb missglückter Brandanschlag auf die NS-Propagandaausstellung „Das Sowjetparadies“ im Berliner Lustgarten. Es gab nur einen Schwelbrand. Die Ausstellung sollte den Vernichtungskrieg von Wehrmacht und SS im Osten rechtfertigen. Schon am nächsten Tag war sie wieder geöffnet. Ausgeführt hatte den Anschlag eine Gruppe untergetauchter junger jüdischer Linker, die von der Gestapo „Baum-Gruppe“ genannt wurde. Neun von ihnen wurden am 4. März 1943 hingerichtet. Die Köpfe wurden abgetrennt, die Körper in der Anatomie der Charité noch in der Nachkriegszeit zum Sezieren benutzt. Herbert Baum, der der KPD angehörte, wurde gefoltert und tötete sich in Haft vermutlich selbst.

Auch Hella Hirsch und ihre Schwester Alice gehörten zu der Gruppe, die keine Kaderorganisation war, sondern eher ein Freundeskreis. Man redete über alles Mögliche: Marx, Antisemitismus, klassische Musik, verbotene Bücher wie etwa von B. Traven. Mit 13 Jahren lernte Hella Hirsch den etwas älteren Herbert Baum kennen, der ihr enorm „weise“ vorkam. In den 30er-Jahren klebte sie Anti-Nazi-Plakate in Berliner Straßen. Eine Freundin sagt später: „Wir hatten das Gefühl, dass uns nie etwas passieren kann.“

Dieses Zitat findet sich in dem kurzen Film „Hella Hirsch und ihre Freunde“ von Barbara Kaspers und Lothar Schuster, einem präzise und einfühlsamen Porträt der facettenreichen Gruppe. Die Dokumentation verzichtet auf Zeitzeugen, nichts wird nachgespielt. Man sieht meist statuarische Aufnahmen der Orte des Geschehens, vom Scheunenviertels, von der Gipsstraße, vom Lustgarten und vom Anhalter Bahnhof, von wo jüdische Freunde im letzten Moment emigrierten, vom Sony Center, wo früher Freislers Volksgerichtshof stand und das Todesurteil gegen Hella Hirsch gefällt wurde. Manchmal sind Fotos von Baum, Hirsch und anderen vor die Gebäude drapiert. Mehr Aktualisierungen gibt es nicht.

1941 war Hirsch Zwangsarbeiterin in einer Fabrik. „Die Arbeit“, schrieb sie einer emigrierten Freundin, „macht mich schrecklich müde.“ Außerdem sei es „komisch, eine Beschäftigung zu haben, bei der ich nicht zu denken brauche“. Um der Deportation zu entgehen, besorgt sie sich falsche Papiere. Im Mai 1942 heiratet sie. Die 35-minütige, konzentrierte Dokumentation zeigt die mannigfachen Alltagsschikanen gegen Juden – und wie die Gruppe versuchte, gegen den Terror, normal zu leben. In ihren Briefen, die im Off verlesen werden, erscheint Hella Hirsch als wach, klug und ernst.

In der Bundesrepublik wurden Sophie Scholl und Graf Stauffenberg zu Ikonen des Widerstands – Herbert Baum und Hella Hirsch nicht. 1983 versuchte der Asta vergeblich die Technischen Universität Berlin in Herbert-Baum-Universität umzubenennen, 1993 widmete sich erstmals kompetent eine Ausstellung dem jüdischen Widerstand. In der alten Bundesrepublik, so der Filmemacher Lothar Schuster, wurde die Gruppe „einfach der KPD zugeschlagen, obwohl sie keine KPD-Gruppe war“.

Die Kerngruppe, Herbert und Marianne Baum, Martin und Sala Kochmann, war zwar in der KPD, viele andere aber waren eher diffus sozialistisch, anarchisch oder von der Wandervogel-Bewegung inspiriert. Der Anschlag auf die NS-Ausstellung war auch kein Parteiauftrag, sondern eine spontane Idee Baums. Als Identifikationsfiguren für die Bundesrepublik taugten die Gruppenmitglieder nicht. Sie waren zu proletarisch, politisch verdächtig, und, anders als die Geschwister Scholl, nicht christlich.

Auch in der DDR tat man sich mit Baum nicht ganz leicht. Anfangs galt die Gruppe als politisch „unzuverlässig“, in den frühen 50er-Jahre wurde sie als KPD-Widerstand anerkannt. Das Jüdische spielte in der DDR-Erinnerungspolitik kaum eine Rolle. So erinnert am Lustgarten seit 1981 ein Gedenkstein nur an den „Jungkommunisten Baum“. Hella Hirsch und ihre Freunde waren für die DDR zu jüdisch, für die junge Bundesrepublik zu kommunistisch. Und heute?

■ Heute 19.30 Uhr, Babylon Mitte. Regina Scheer liest aus „Im Schatten der Sterne. Eine jüdische Widerstandsgruppe“. Danach „Hella Hirsch und ihre Freunde“ in Anwesenheit von Barbara Kasper und Lothar Schuster