„Jedes Kind braucht Könnenserfahrungen“

Der UN-Sonderberichterstatter besucht heute eine Berliner Grundschule, in der vier von fünf Schülern Migrantenkinder sind. Die Erika-Mann-Schule hat Erfolg – mit Theaterspiel und ohne Noten. Ein Gespräch mit der Leiterin Karin Babbe

taz: Frau Babbe, der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung besucht heute Ihre Grundschule. Wird dieses Recht hierzulande verletzt?

Karin Babbe: Sagen wir es so: Es ist eine große Herausforderung, das Recht auf Bildung für alle Kinder zu verwirklichen. Aber das ist unsere Verpflichtung!

Was werden Sie Herr Muñoz sagen?

Ich werde ihm erst einmal unseren Unterricht zeigen. Da sieht er beides: die enormen Herausforderungen, vor denen wir stehen, und die pädagogischen Antworten, die wir finden.

Die Erika-Mann-Grundschule, deren Leiterin Sie sind, liegt in einem sozialen Brennpunkt in Berlin-Wedding. 80 Prozent der Kinder haben eine nichtdeutsche Muttersprache. Viele können weder die eine noch die andere Sprache gut. Wie reagiert Ihre Schule darauf?

Wichtig ist zunächst einmal, den eigenen Leistungsbegriff zu definieren: Wir gehen davon aus, dass jedes Kind Könnenserfahrungen braucht. Der Unterricht muss also so angelegt sein, dass sich die Kinder mit allen ihren Fähigkeiten entfalten können – unabhängig von den sprachlichen Voraussetzungen.

Was heißt das konkret?

Ein zentraler Baustein ist der Theaterschwerpunkt. Bei uns haben alle Klassen jede Woche zwei Stunden Theaterspiel. Und: Bei uns gibt es bis einschließlich zur vierten Klasse keine Noten.

Warum?

Weil man mit verbalen Beurteilungen den individuellen Fortschritten des einzelnen Kindes besser gerecht wird. Noten vergleichen immer Fritz mit Mehmet. Wir müssen aber den Mehmet vom Montag mit dem Mehmet vom Freitag vergleichen.

Welche Rolle spielt das Theaterspiel?

Bei uns stehen alle Kinder auf der Bühne. Sie lernen, dass alle für das Zusammenspiel wichtig sind, egal ob sie lernbehindert oder hochbegabt sind. Für den Einzelnen ist wichtig, das Lampenfieber zu überwinden, zum richtigen Zeitpunkt loszugehen, gehört zu werden. Das schafft Vertrauen in sich selbst. Und das ist die Grundlage, auf der Sozial- und Sprachkompetenz entwickelt werden.

Wie hilft das Theaterspiel bei der Sprachförderung?

Alle Stücke werden selbst entwickelt und geschrieben, vom Plot bis zum Dialog. Jede Theaterstunde ist auch eine Grammatikstunde, aber erlebte Grammatik! Wenn man dann in der fünften oder sechsten Klasse den Dativ oder Akkusativ systematisch aufarbeitet, fällt das auf ein ganz anderes Bett.

Ist der Erfolg messbar?

Mehr als zwei Drittel unserer Kinder bekommen eine Empfehlung für die Realschule oder das Gymnasium – und sie schaffen die auch. Das ist sehr viel.

Andere Schulen sind nicht so erfolgreich. Woran mangelt es?

Vielerorts gibt es einzelne solcher Bausteine. Aber diese dürfen keine Einzelaktivitäten bleiben, sie müssen vernetzt werden. Die Schule muss ein so engmaschiges Netz bilden, dass kein Kind durchfällt. Theaterspielen allein bringt es nicht, Sprachförderung allein auch nicht.

Deutschförderung gilt derzeit als Patentlösung.

Wir haben natürlich auch Lehrer für Deutsch als Zweitsprache, aber wir separieren dabei nicht. Die DaZ-Lehrer gehen als zweite Kraft in die Klassen. Sie gehen auch mal mit einem Kind oder einer kleinen Gruppe raus, aber anlassorientiert. Außerdem muss jeder Lehrer DaZ mitdenken. Wenn Geschichtslehrer Quellen bearbeiten, müssen sie textentlastende Methoden kennen, denn bestimmte Quellen sind für unsere Kinder eine große Hürde. Oder die Naturwissenschaftslehrerin weiß, dass das Wort Bunsenbrenner ein extrem schwieriges ist. Sie wird es also lautlich durchgliedern und den Artikel miteinführen.

An Ihrer Schule sind meist zwei Pädagogen im Klassenraum. Erhalten Sie dafür mehr finanzielle Mittel?

Nein, wir haben nur die DaZ- und die Integrationslehrer für die behinderten Kinder. Sie sind zusätzlich in den Klassen. Hinzu kommen Erzieher, ABM-Kräfte und Ehrenamtliche. Deshalb können wir die Klassen häufig teilen.

Was muss sich ändern, damit Migrantenkinder bessere Bildungschancen haben?

Das dreigliedrige Schulsystem mit seiner frühen Selektion tut den Kindern nicht gut. Außerdem muss natürlich die frühkindliche Bildung besser werden. INTERVIEW: SABINE AM ORDE