Mit diplomatischem Geschick aus der Krise

TÜRKEI II Die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei werden bis nach der Bundestagswahl verschoben, aber nicht dauerhaft auf Eis gelegt. Beide Seiten können damit ihr Gesicht wahren

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Nach einem heftigen diplomatischen Schlagabtausch zwischen Deutschland und der Türkei wegen der Fortführung der EU-Beitrittsverhandlungen hat man sich jetzt auf einen Kompromiss geeinigt. Die EU sagt der Türkei die Eröffnung eines neuen Kapitels in den Beitrittsgesprächen im Prinzip zu, macht den Zeitpunkt der Gespräche aber vom EU-Fortschrittsbericht im Herbst abhängig. Damit hat sich der deutsche Außenminister Guido Westerwelle innerhalb der EU durchgesetzt, der diesen Zweistufenplan vorgeschlagen hatte, nachdem die Bundesregierung ursprünglich die Eröffnung eines neuen Kapitels ganz ablehnen wollte. Die türkische Regierung hatte daraufhin damit gedroht, dann den gesamten Beitrittsprozess auf Eis zu legen.

Offiziell begründete die Bundesregierung ihre Haltung mit dem undemokratischen, harten polizeilichen Vorgehen der türkischen Regierung gegen die Protestbewegung. Tatsächlich sind die CSU und große Teile der CDU aber ohnehin gegen einen türkischen EU-Beitritt und wollen die Proteste gerne zum Vorwand nehmen, vor der Bundestagswahl im September ihre Ablehnung der Türkei wählerwirksam zu demonstrieren. Die türkische Regierung, und dabei allen voran Ministerpräsident Erdogan, ergeht sich ihrerseits seit Tagen in Konspirationstheorien über die ausländischen Hintermänner der Protestbewegung und versuchte, Merkels Haltung als Beleg dafür auszuschlachten.

Dass es nicht zum völligen Bruch gekommen ist, ist wohl vor allem Westerwelle und seinem türkischen Kollegen Ahmet Davutoglu zu verdanken. Beide Außenminister wollten die ganz große Krise abwenden und hielten deshalb in den letzten Tagen einen engen Kontakt zueinander. Davutoglu verkaufte gestern denn auch den Brüsseler Kompromiss als einen Sieg der türkischen Diplomatie. „Das Kapitel wird eröffnet“, sagte er vor Journalisten, „der Beschluss der EU ist unumkehrbar.“ Der EU-Beschluss sei zwar „unzureichend, aber ein Schritt in die richtige Richtung“. Westerwelle kann dagegen darauf verweisen, dass vor den Bundestagswahlen keine Verhandlungen mit der Türkei stattfinden werden und man im Herbst dann, im Lichte des neuen Fortschrittsberichts, die weiteren Schritte mit der türkischen Regierung erörtern wird.

Innerhalb der EU waren Österreich und die Niederlande wie Deutschland eher für einen Stopp der Verhandlungen, während der schwedische Außenminister Carl Bildt erklärte, er sei dagegen, die Beziehungen der EU mit der Türkei dem deutschen Wahlkalender unterzuordnen. Für die praktische Politik spielt das jetzt zur Debatte stehende Kapitel 22 aus dem 35 Kapitel umfassenden Erweiterungskatalog der EU sowieso keine Rolle. Es geht um „Regionale Kooperation“ und gehört zu den wenigen Kapiteln, die nicht durch Zypern oder Frankreich blockiert sind. Um substanzielle Gespräche über Menschenrechte oder Justiz führen zu können, müssten diese Kapitel seitens der EU für Verhandlungen freigegeben werden. Dafür müsste die Türkei aber zuvor die Beziehungen zu Zypern normalisieren.