Offenes Ohr für die Opfer

Was Anne Drescher am meisten in ihrer Tätigkeit bei der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Schwerin berührt hat, war ein Mann, der sie wegen fehlender Jahre in seinen Renten-Unterlagen aufsuchte. „Sie waren sicherlich inhaftiert?“, fragte Drescher, worauf der Mann erzählte, wie er 1949 vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und für 25 Jahre ins Arbeitslager geschickt wurde. „Der Mann hat ohne Punkt und Komma erzählt, zwei Stunden lang“, berichtet Drescher. Seine Frau, die dabeisaß und die Geschichte zum ersten Mal hörte, habe die ganze Zeit geweint.

Drescher, bisher stellvertretende Landesbeauftragte, wurde gestern mit großer Mehrheit vom Landtag Mecklenburg-Vorpommerns zur neuen Chefin der Behörde gewählt. Damit kann sie sich für mindestens fünf weitere Jahre ihrem Herzensanliegen, der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit widmen. „Ich brenne für diese Aufgabe“, sagt sie.

Die 51-Jährige ist in einem Pfarrhaushalt aufgewachsen. Nach der 10. Klasse musste sie trotz bester Noten die Schule verlassen. Da sie nicht bei den Jungen Pionieren und der FDJ mitmachte, kam ein Studium für Drescher nicht infrage. Stattdessen lernte sie Krankenschwester. In den 1980er-Jahren engagierte sie sich bei „Frauen für den Frieden“, später in der Arbeitsgruppe Frieden der evangelischen Landeskirche.

Dieses Engagement habe sie in Verbindung mit Leuten gebracht, die über die Aufgaben einer Landesbehörde für die Stasi-Unterlagen nachdachten. 1994 fing sie bei der neu eingesetzten Landesbeauftragten als Beraterin an. Schnell wurde ihr klar, dass sie zusätzliches Rüstzeug brauchte, um den Menschen mit ihren schweren Schicksalen helfen zu können.

Drescher bildete sich seelsorgerisch fort. Nebenbei tat sie, was ihr die DDR verwehrt hatte: Sie studierte Philosophie und Geschichte. Arbeit gebe es für die Beauftragte reichlich: „Wir haben eine eklatante Zunahme des Unwissens, was die Geschichte der DDR betrifft“, sagt sie.  KNÖ