Das Land mit Mathe versöhnen

MATHE, INFORMATK ETC Der Exportweltmeister leidet unter genereller MINT-Allergie. Weder herrscht mathematisch-naturwissenschaftliches Denken an Schulen noch gibt es genug Lehrer. MINT-Gipfel versucht, Anstöße zu geben

■ 10 Thesen zur Lehrerbildung für die Fächergruppe Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik hat das MINT-Forum beschlossen – die sich auch an die Politik richten. Die ersten drei Thesen lauten:

1) „Der Lehramtsausbildung muss in den Universitäten ein höherer Stellenwert beigemessen werden. In der Verantwortung sind hier die Universitäten genauso wie die Politik in den Ländern und im Bund.“

2) „Das Lehramtsstudium und der Beruf der Lehrerin oder des Lehrers müssen für talentierte junge Menschen gerade im MINT-Bereich an Anziehungskraft gewinnen.“

3) „Der Stellenwert von Mathematik, Naturwissenschaften und Technik muss schon in der Grundschule gestärkt werden. Dem sollte die Ausbildung von Grundschullehrkräften Rechnung tragen.“

Mehr: nationalesmintforum.de

VON JORIS HIELSCHER

Es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis MINT so alltäglich im Sprachgebrauch wie Pisa wird und Eingang in den Duden findet. Keiner, der nur im Entferntesten mit Bildung zu tun hat, kommt heutzutage um diese vier Buchstaben herum. Es ist Allgemeinplatz geworden, dass mehr Nachwuchs in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik nötig ist, um das Land endlich mit Wissenschaftsfächern zu versöhnen.

Aus diesem Grund haben sich in den vergangenen Jahren gefühlte 15.000 Initiativen deutschlandweit gebildet, und zwar in höchst vielfältiger Form. Die Zielgruppen reichen von kleinen Kindern, die erste Begegnungen mit Naturwissenschaft und Technik machen sollen, bis zu gestandenen Erwachsenen, wie ausländischen Akademikern, deren Abschluss nicht anerkannt wird. Sie finden in allen erdenklichen Schularten und -typen statt, und engagiert sind Unternehmen vom kleinen Mittelständler bis zum Weltkonzern. Es ist eine „fröhlich engagierte Landschaft“ laut Professor Manfred Prenzel, Bildungsforscher an der TU München, oder einfach ein „chaotisches Gebilde“, wie es Thomas Sattelberger von der Initiative „MINT Zukunft schaffen“ der großen Wirtschaftsverbände BDA und BDI ausdrückt.

Um etwas Ordnung in die wild wuchernde Bildungslandschaft zu bringen, haben sich 24 der wichtigsten überregionalen Organisationen im vergangenen Jahr zum Nationalen Forum Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zusammengeschlossen, kurz MINT. Nun hat das Forum auf einem Gipfel in Berlin – im Beisein von Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) – die ersten Ergebnisse seiner Arbeit vorgestellt.

Drei entscheidende Baustellen sind laut Professor Henning Kagermann von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften „Vernetzung, Wirkungsüberprüfung und Anschlussfähigkeit“. Denn bisher werkeln die MINT-Initiativen – die Mehrzahl Kooperationen zwischen Schulen und ortsansässigen Unternehmen – oft autonom vor sich hin und sind dabei höchst abhängig von Einzelpersonen. Wird die Kooperation beendet oder verlassen die beteiligen Personen – Rektor, Lehrer, Ansprechpartner im Unternehmen – ihre Position, geht die Erfahrung verloren, oft unwiederbringlich. Es gibt in der Regel weder eine Dokumentation noch eine Wirkungsüberprüfung nach dem Sinne: Welche Maßnahmen haben das Interesse der Schüler gesteigert und welche eher nicht?

Als allerersten Schritt hat das Forum deshalb einen Leitfaden erarbeitet, welcher den einzelnen Initiativen als „Orientierungshilfe“ für Dokumentation und Evaluation dienen soll. Ziel ist es, dass sie sich nach getaner Arbeit vernetzen und miteinander austauschen. „Erfahrungen müssen übertragbar gemacht werden“, so Kagermann. Erfolgreiche Modelle könnten so als Vorbild für Andere dienen.

Sorge um Lehrerbildung

Einen ersten Anstoß will das Forum auch in Sachen Lehrerbildung geben, welche als entscheidend für die Verbesserung der MINT-Bildung angesehen wird. „Ohne gute MINT-Lehrer keine gute MINT-Bildung“, erklärt Ekkehard Winter von der Deutschen Telekom Stiftung. Es gebe einen eklatanten Mangel an Fachlehrern, was dazu führe, dass bis zu 50 Prozent der unterrichtenden Lehrer Quereinsteiger seien. Zudem werde die Lehramtsausbildung von den Fachwissenschaften vernachlässigt, so Winter weiter. Neben allgemeinen Empfehlungen, wie die Attraktivität des Lehrberufs zu steigern, kommt das Forum zu einigen konkreten Forderungen: Alle Universitäten sollten eigene Fakultäten beziehungsweise Zentren für die Lehramtsbildung einrichten, zukünftige Grundschullehrer Mathematik als Kernfach belegen müssen und Fachdidaktik-Professuren deutlich ausgeweitet werden (siehe Kasten).

Die Politik betrachtete das Treffen eher aus der Ferne. Außer Bundesbildungsministerin Johanna Wanka schaffte es von den 16 für die Bildung verantwortlichen Landesministern nur der Hamburger Senator Ties Rabe (SPD) auf den Gipfel. Die unterschiedlichen Ebenen erschweren dabei ein Umsteuern. Die Förderung von MINT-Fächern erfolgt lokal und regional, da Anschaulichkeit und Praxis den Schülern nur in ansässigen Unternehmen und Forschungsinstituten vermittelt werden kann. Bildungspolitik ist Aufgabe der Länder, die auch Arbeitgeber der Lehrer sind und die Lehrerausbildung organisieren. Und dann mischt noch der Bund mit Hochschulpakten und Förderprogrammen mit und beeinflusst mit seiner Familien- und Sozialpolitik wichtige Faktoren. MINT ist auch eine Schnecke.

„MINT-Berufe sind eigentlich Aufsteigerberufe für Familien mit niedrigem Bildungsstand oder mit Migrationshintergrund“

ARNDT SCHNÖRING, STIFTUNG DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT

Dabei sind die von Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt genannten Zahlen alarmierend. Schon heute würden knapp 100.000 Fachkräfte in den MINT-Branchen fehlen, was die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft erheblich bremse. Die Lücke werde angesichts der zu erwartenden demografischen Entwicklung – 2020 sei mit 20 Prozent weniger Schüler als 2005 und 2030 mit knapp 10 Millionen weniger Erwerbstätigen zu rechnen – weiter wachsen. An dieser Stelle kritisiert Hundt die schwarz-gelbe Regierung scharf: „Wir sind gegen das Betreuungsgeld! Es setzt völlig falsche Anreize.“ Außerdem habe die BlueCard wenig am Fachkräftemangel geändert. Bisher habe die Bundesregierung es nicht geschafft, genug qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland nach Deutschland zu locken, so Hundt.

Krippe und MINT

Die Problematik des Betreuungsgelds gewinnt noch mehr an Brisanz angesichts der Aussage von Professor Jürgen Mlynek, Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft: „Die Bertelsmann-Studie belegt einen Zusammenhang von Krippen- und Gymnasialbesuch bei bildungsbenachteiligten Kindern.“ Dabei liege gerade bei dieser Gruppe das meiste Talentpotenzial brach, so eine Arbeitsgruppe des Forums. „MINT-Berufe sind eigentlich klassische Aufsteigerberufe und für junge Menschen aus Familien mit niedrigem Bildungsstand oder Migrationshintergrund sehr attraktiv“, erklärt Arndt Schnöring von der Stiftung der Deutschen Wirtschaft. Doch der soziale Aufstieg gelinge oft nicht, die Zielgruppe scheitere schon früh an den entscheidenden Übergängen. Von der Grundschule zur weiterführenden Schule, von der weiterführenden Schule in den Beruf beziehungsweise ins Studium. „Nicht die mangelnde Attraktivität der MINT-Berufe, sondern die soziale Selektivität unseres Bildungssystems ist das Grundproblem“, so Schnöring weiter. So gehe durch die starke Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland dieses Potenzial verloren.

Die Situation – akuter Fachkräftemangel, demografischer Wandel und die Dauer von Veränderungen – beschreibt Thomas Sattelberger mit den Worten: „Das Wasser steht schon über dem Bauch“. Erste Schwimmzüge sind gemacht. Das Ufer aber ist noch fern.