Die Freiheit der anderen

DAS SCHLAGLOCH von HILAL SEZGIN

Die ungeliebte Minderheit lässt sich im Grenzgebiet zwischen Satire und Blasphemie leichter angreifen

Die Verve, mit der sich deutsche Zeitungen, insbesondere Feuilletons, auf den Karikaturen-Streit und seine Folgen im Nahen Osten und Südasien stürzen, steht in überhaupt keinem Verhältnis zu der mäßigen Empörung, mit der die Muslime Westeuropas auf die Karikaturen reagiert haben. Als ob sie sich aber in direktem Dialog mit den aufgebrachten Massen in Damaskus, Beirut und Teheran befänden, debattieren hiesige Zeitungen mal vermittelnd, mal lehrmeisterisch den Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und religiöser Empfindung.

Dass es aber nicht allein um die Freiheit der Meinung oder der Kunst geht, ergibt sich schon daraus, dass es keine künstlerische Tätigkeit war, die einen politischen Konflikt nach sich gezogen hat, sondern umgekehrt ein politischer Probelauf, für den sich die verantwortliche dänische Zeitung einer künstlerischen Darstellung nur bedient hat. Er habe in Erfahrung bringen wollen, erklärte der Redakteur Flemming Rose nachträglich, „wie weit die Selbstzensur in der dänischen Öffentlichkeit geht“.

Dafür hat Rose seinen Karikaturisten nicht etwa ein pornografisches oder gar kinderpornografisches Thema vorgegeben, sondern das Mohammeds. Raffiniert! Gerade weil die Freiheit der Religion und der Meinung im Europa der Aufklärung gegen Zensur erkämpft wurde, findet hier auch der Intolerante bisweilen Unterschlupf, ohne eine Rüge zu riskieren. Darum ist auf dem Grenzgebiet zwischen Satire und Blasphemie eine ungeliebte Minderheit viel leichter anzugreifen als beispielsweise mit Hilfe einer direkt rassistischen Darstellung.

Womit natürlich nicht gesagt sein soll, dass jede Mohammed-Karikatur per se ein Zeichen von Intoleranz oder gar zu verbieten sei; die Religion ist ja selbst keine göttliche, sondern eben auch nur eine menschliche Tätigkeit unter anderen und muss sich demselben Spielraum von Meinungsvielfalt und Streit, Takt, Respekt und Duldung aussetzen. In diesem Fall aber diente das Projekt, Mohammed-Karikaturen auf die „dänische Öffentlichkeit“, also auf eine Einwanderungsgesellschaft loszulassen, dem Versuch eines Kräftemessens: Wie stark regen sich die dänischen Muslime auf? Wie weit kommen sie mit ihren Protesten, und wer springt ihnen bei?

Wie nicht anders zu erwarten, ist diese Provokation bei den in den Ländern Westeuropas lebenden Muslimen auch angekommen, indem viele von ihnen die Karikaturen als Beleidigung wahrnehmen. Wie die liberalen Verteidiger der Meinungsfreiheit ließen auch sie sich dazu verführen, den Konflikt auf einer relativ abstrakten normativen Ebene auszutragen. Und so wird in den letzten Tagen verhältnismäßig wenig darüber gesprochen, welche Bevölkerungsgruppe Ressentiments gegen eine andere hat, warum und welcher Art. Man spricht lieber abstrakt über die Freiheit der Meinung und ihre Grenzen als über die konkrete Freiheit zur Teilhabe an der offiziellen, demokratischen Wahl – und deren Grenzen! Dabei leben allein in Deutschland Millionen von Menschen seit Jahren, ohne als Wähler auf die Gesetze, die für sie gelten, Einfluss nehmen zu können.

Von der Meinungsfreiheit profitieren vor allem diejenigen, in deren Händen sich die bei weitem größten Anteile an einflussreichen Medien befinden – das ist die deutschstämmige Mehrheitsgesellschaft. Wohingegen den Einwanderern außer Vereinsgründungen und Demonstrationen kein legales Mittel zur öffentlichen Äußerung ihrer Meinung bleibt. Die Einheimischen drucken also Zeitungen, die Einwanderer geben Presseerklärungen heraus und hoffen, dass diese dann in den Zeitungen gedruckt werden. Ironischerweise gilt zwar für alle die Meinungsfreiheit, aber sie kann nur in sehr ungleichem Maße ausgeübt werden. Von der anderen Freiheit, bei der tatsächlich jeder und jede genau eine Stimme hat, möchte die Mehrheit ungern abgeben.

So weit die eher düsteren Seiten des Karikaturenstreits. Es gibt auch eine hellere Seite, die man angesichts der Apokalypse im Nahen Osten allerdings leicht übersieht. Dabei ist die Übereinstimmung zwischen den etwas verschnupften, aber besonnen agierenden Muslimen in Westeuropa und denen, die im Nahen Osten auf die Barrikaden gehen, doch deutlich geringer, als man noch vor einer Woche hätte vermuten können. Während im Nahen Osten Botschaften gestürmt oder gar in Brand gesetzt werden, hörte man in Westeuropa von muslimischer Seite vor allem mahnende Worte. Es gab einige wenige Demonstrationen, manche davon gemeinsam mit Nicht-Muslimen; nur in einer Handvoll Fälle kam es zu Gewalttaten und Gewaltandrohungen, die die Mehrheit der anderen Muslime sofort verurteilt hat.

Wenn die Ausgangsbehauptung stimmt, dass es sich nicht um einen religiösen Konflikt, sondern um einen gesellschaftlichen handelt, der nur mittels einer Beleidigung religiöser Symbole anzuheizen versucht wurde, sind die unterschiedlichen Reaktionen bei Muslimen in Nahost und West nicht so verwunderlich: Wie viel verbindet denn einen arabischstämmigen Kopenhagener Kleinunternehmer mit einer pakistanischen Teppichknüpferin, einen Rüsselsheimer Opel-Arbeiter mit einem Palästinenser, der von Saudi-Arabien aus mit harter „Gastarbeit“ seine Familie ernährt? Im Nahen Osten artikuliert sich ein Hass auf Westeuropa, der aus einem diffusen, aber auch nicht gänzlich unberechtigten Gefühl herrührt, Opfer früheren und heutigen Imperialismus geworden zu sein. Diktaturen werden von außen aufgebaut und kaputt gebombt. Die Menschen dort wissen, dass sie schon mal zum „Kollateralschaden“ erklärt werden. Der Schutz von Leib und Leben wird in ganz anderer Währung gemessen als in Westeuropa.

In Westeuropa hörte man von muslimischer Seitevor allem mahnende Worte

Während diese ziemlich handfesten Konflikte in deutschen Interpretationshochburgen immer öfter mit dem Schlagwort „Kampf der Kulturen“ ideologisch umkleidet werden, ist man sich offenbar zu vornehm, sich einmal nach den Muslimen umzusehen, mit denen man doch tatsächlich zusammenlebt! Hier ist kein Kampf, schon gar keiner „der Kulturen“, in Sicht. Die hiesigen Muslime hätten sich mit jener aufgebrachten Menge ideell verbünden können, wenn sie sich hier so wenig heimisch, so wenig verwurzelt fühlten, wie beispielsweise diejenigen meinen, die in jedem Kreuzberger Hinterhof eine Parallelgesellschaft heraufbeschwören. Sie erkannten die Provokation, das ja; aber war der Grad ihrer Gekränktheit, ihres Sich-Unverstanden- und Ausgeschlossen-Fühlens so groß, dass sie auch nur in Erwägung gezogen haben, die Flucht ins große fiktive „Wir“ mit nahöstlichen Eiferern anzutreten? Keineswegs!

Seit der Ermordung des holländischen Regisseurs Theo van Gogh werden einige nicht müde, das Ende der Multikulti-Gesellschaft zu besingen. Nun, in einem Moment, wo man es am wenigsten erwarten könnte, erbringen die Muslime Westeuropas ihren neuen Heimatländern diesen Vertrauensbeweis. Es wäre mehr als schade, über ihn hinwegzugehen, nur weil sich über die These vom „Kampf der Kulturen“ dramatischer diskutieren lässt.