AUSGETÜFTELTE AKUSMATISCHE ABENTEUER UND GROSSFLÄCHIG IN SZENE GESETZTE HAUTUNREINHEITEN
: Willkürliche Porentiefe

VON DIEDRICH DIEDERICHSEN

Ganz vorn und ganz hinten, da spielen die meisten neuen Filme. Die Regisseure tasten buchstäblich die Poren der Gesichter ihrer Darsteller ab, sie lassen Haut und Härchen sprechen. Während aber das Bild Tiefe in der Oberfläche sucht, sind die Soundspuren mittlerweile ausgetüftelte akusmatische Abenteuer. Der Filmsound-Theoretiker Michel Chion hat den Begriff des Akusmatischen bekannt gemacht, er bezeichnet die Zone der nicht sichtbaren Klang- und Geräuschquellen.

In dieser Off-Screen-Zone werden heute ganze Nebengeschichten erzählt: ein persistentes Grummeln z. B., das vor allem als generell rätselhaft verstanden werden will, aber aus so krispen Klängen besteht, dass man nicht anders kann, als konkrete Geräuschursachen zu imaginieren. Oder es fallen Gegenstände um, etwas weit Entferntes nähert sich, doch das Bild ist mit seinen Gedanken ganz woanders. So etwas hielt sich früher ein paar Sekunden (und nur im Horrorfilm), dann übernahm wieder der Chef: das Bild. Indem es entweder die Klangursache enthüllte oder durch dunkle Bilder darüber informierte, nicht genau informieren zu wollen.

Seit aber, nicht zuletzt durch die Universalität des allseits genutzten Rechners, immer häufiger Leute, die in der Kreativhierarchie höher stehen als die oft nur dienenden Soundleute, über Sound nachdenken, werden die Dinge laut. In „Putty Hill“ von Matt Porterfield beginnt jede Szene mit höchst detaillierten Ereignissen im von der Kamera nicht erfassten Bereich des Handlungsraumes. Sie werden dann nicht dem On-Screen-Ereignis unterworfen, sondern setzen sich als zweite Szene fort. Das gibt der White-Trash-Jugendkultur-Studie – Larry Clark ohne Sexualisierung – zunächst eine besondere Lebendigkeit, wirkt aber bald in seiner selbstzweckhaften Deutlichkeit, als wolle sich hier eine Idee spreizen. Dabei liegt es nahe, die intensive und reflexive Gestaltung des visuell blinden Flecks zu einem großen Thema des Kinos zu machen.

Kulturelle Jahrhunderte nach früheren Sound-Einschnitten wie Direct Cinema ließe sich mit den neuen Mitteln der Klanggestaltung und der Recording Technology dessen Erkenntnisvermögen neu formulieren. Die hautbegeisterten Kameraleute und Regisseure jedenfalls haben implizite Ideen. Sie wollen die Körperlichkeit ihrer Darsteller ausstellen, ohne sie außer Atem zu bringen oder ihnen die Kleider vom Leib zu reißen. Die Poren und die Hautunreinheiten liest man als Indizes seelischer Vorgänge, die nicht vom Schauspieler absichtlich hervorgebracht, sondern von der Kamera quasi voyeuristisch beobachtet werden – egal ob die Maske nachgeholfen hat oder nicht.

Was etwa Tatjana Turanskyj in ihrem feministischen Prekariats- und Postfordismus-Blues „Eine flexible Frau“ mit ihrer Hauptdarstellerin anstellt, ist zwar inhaltlich begründet: Die großflächig in Szene gesetzten Hautflächen sollen von der besonderen Enerviertheit erzählen, die die Verwertung des Selbst vor allem von Frauen produziert. Aber ganz abgesehen von der fast humoristischen Redundanz, die aus der wiederholten Nahaufnahme von Hautunreinheiten entsteht, wird die Schauspielerin zur Requisite. Während sich bei Turanskyj Schauspiel und maskenbildnerische Biopolitik gegenüberstehen, wird in der nicht uninteressanten Jugendverzweiflungsstudie „Fin“ (Luis Sampieri), den Darstellern keinerlei schauspielerische Intention mehr zugestanden; sie sind nur noch ihr Körper, in dem sich ihr Elend stumm verschließt, Pickel hinterlassend. In beiden Fällen lassen sich Gegenstand und Darstellungsmittel schwer unterscheiden. Unwillkürliche Körperlichkeit ist eben genau die Attraktion und Produktivkraft der kulturell-politischen Verhältnisse, die die betreffenden Filme – ja was? – abbilden, kritisieren oder denen sie einfach entsprechen.