„Müssen wir jetzt über Sex reden?“

Seyran Ates, Frauenrechtlerin, und Nadeem Elyas, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, über den Muslim-Test, Frauenemanzipation und das Recht auf freie Liebe

VON SABINE AM ORDE
UND DANIEL BAX

taz: Frau Ates, Herr Elyas, seit Jahresbeginn müssen Einwanderer in Baden-Württemberg, die sich einbürgern lassen wollen, damit rechnen, einem Gesinnungstest unterzogen zu werden. Er ist speziell für Muslime konzipiert. Ist das eine gute Idee oder ein Irrweg?

Seyran Ates: Der Test ist unsinnig, weil damit nicht das Ziel erreicht wird, an die wirklich gefährlichen Leute heranzukommen. Es wird gelogen werden. Wer will, kann sich vorbereiten.

Grundsätzliche Bedenken gegen eine Gesinnungsprüfung haben Sie also nicht?

Ates: Nein, im Grunde habe ich keine Bedenken. Ich bin ja Frauenrechtlerin, und 17 der 30 Fragen des Gesprächsleitfadens betreffen die Frauenfrage. Das sind Fragen, die mich seit Jahren umtreiben. Ich finde es absolut legitim, Menschen, die sich einbürgern lassen wollen, mit diesen Fragen zu konfrontieren.

Nadeem Elyas: Aus diesem Test spricht doch ein deutliches Misstrauen gegen die Muslime – und zwar gegen alle Muslime. Will man die Leute denn einbürgern oder verscheuchen? Man hat sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, was das für einen Effekt auf die 3,2 Millionen Muslime haben wird, die in Deutschland leben.

Was befürchten Sie?

Elyas: Wenn Muslime so pauschal verdächtigt werden, werden viele in ihrer Einschätzung bestätigt: Dieser Staat will uns nicht, und diese Gesellschaft macht sich keine Gedanken darüber, ob wir würdig behandelt werden. Was soll ich dann mit dieser Gesellschaft, mit diesem Staat? Diese Zurückweisung macht einige erst ansprechbar für Radikalismus. Es verschärft also eher das Problem, als dass es hilft.

Ates: Dieser Einwand kommt doch bei jeder Maßnahme – egal, was wir machen. Wir können nicht jedes Mal die Rassismuskeule rausholen, nur wenn über Probleme gesprochen wird und über Instrumente, mit denen man sie bekämpfen will. Es gibt gute Gründe, warum dieses Misstrauen gegenüber Muslimen existiert.

Elyas: Eine Verpflichtung zum Staat und zum Grundgesetz ist doch selbstverständlich. Aber was hat dieser Fragenkatalog damit zu tun? Er fragt: Willst du deine Frau schlagen? Willst du deine Tochter einsperren? Warum bezieht man das nur auf die Muslime? Warum fragt man Süditaliener nicht, wie sie zur Zwangsehe stehen? Die gibt es nicht nur bei Türken. Und fragen Sie doch mal Christen, ob sie die Bibel für vereinbar mit dem Grundgesetz halten. Fast alle werden Nein sagen. Trotzdem ist für sie das Grundgesetz maßgebend. Für Muslime gilt nichts anderes.

Frau Ates, Sie sagen, es gibt Gründe für das Misstrauen gegenüber Muslimen. In welchen Punkten teilen Sie die Bedenken des Stuttgarter Innenministers?

Ates: Bei ihrer Einstellung zur Gleichberechtigung der Frau. Grundsätzlich habe ich dieses Misstrauen gegenüber allen Männern, schließlich leben wir in einer patriarchalen Welt. Ich beziehe das nicht nur auf Muslime. Aber ich arbeite als Rechtsanwältin vor allem mit Frauen aus dem muslimischen Kulturkreis, und dort haben wir diese Probleme: Parallelgesellschaften, Zwangsheiraten, verstärkte Gewalt gegen Frauen, Ehrenmorde. Dieser Situation müssen wir uns stellen.

Elyas: Und dagegen hilft ein solcher Fragebogen?

Ates: Nein, natürlich nicht. Aber über die Probleme muss diskutiert werden. Ich fordere deshalb ein Ministerium für Einwanderungs- und Integrationsangelegenheiten, das sich endlich ernsthaft und umfassend des Themas annimmt. Es geht ja nicht nur um die Frauen. Was ist mit den Jugendlichen? Mit der Bildung? All diese Missstände.

Sollte ein Ausländer auch dann eingebürgert werden, wenn er sagt, für mich ist Homosexualität eine Sünde?

Ates: Nein, das sollte er nicht. Ich weiß, dann würde auch der Papst durchfallen. (lacht)

Geht diese Einstellung den Staat überhaupt etwas an, wenn daraus keine Taten folgen? Frau Ates, Sie kämpfen für die bürgerlichen Rechte – und nun setzen Sie die Meinungsfreiheit aufs Spiel!

Ates: Natürlich gibt es da einen Widerspruch. Aber ich tendiere manchmal zu radikalen Lösungen, weil ich für die Gleichberechtigung von Frauen und Homosexuellen kämpfe. Dafür muss ich bestimmte Dinge in Kauf nehmen. Das ist eine Frage der Konsequenz.

Elyas: Aber die Verfassungsloyalität zu überprüfen kann doch nicht heißen, nur die reinzulassen, die Homosexualität ohne Wenn und Aber bejahen. Das wäre ein Verfassungsbruch, denn die Verfassung erlaubt jedem, hierzu eine eigene Meinung zu haben.

Herr Elyas, Frau Ates thematisiert immer wieder Zwangsehen, Gewalt gegen Frauen und Ehrenmorde. Sehen Sie diese Probleme auch?

Elyas: Wir sehen diese Probleme, aber es gibt sie nicht nur bei Muslimen. Und sie sind nur gemeinsam zu lösen. Nicht, indem man mit dem Finger auf die Muslime zeigt. Natürlich müssen auch die Gemeinden, die Moscheen etwas tun. Sie haben Einfluss auf ihre Leute. Aber sie brauchen Unterstützung dabei.

Was tut denn der Zentralrat gegen Zwangsheiraten?

Elyas: Wir machen auf unserer Homepage deutlich, dass das unislamisch ist und dass der Prophet eine Ehe annulliert hat, weil die Braut damit nicht einverstanden war. Wir bringen unsere Imame dazu, das in den Freitagspredigten zu thematisieren und bei der Erziehung der Kinder. Es gibt auch andere muslimische Verbände, die dazu Tagungen abgehalten haben. Trotzdem gibt es weiterhin Menschen, die ihre Kinder zu einer Ehe zwingen.

Kommen Sie an diese Leute überhaupt heran?

Elyas: Häufig nicht. Und es ist manchmal auch schwer zu erkennen. Es gibt schließlich auch die Praxis der arrangierten Ehe, wo alles einvernehmlich läuft, und dagegen haben wir nichts.

Ates: Ich habe auch ein Problem mit arrangierten Ehen, weil viele von ihnen de facto Zwangsehen sind. Die betroffenen jungen Menschen werden doch gar nicht in die Richtung erzogen, sich frei zu entscheiden und ihren Partner selbst auszusuchen. Manche Frauen, die in meine Praxis kommen, sagen: Meine Ehe war arrangiert. Aber wenn ich frage: Wie alt warst du, wer hat dich gefragt, wie ist es abgelaufen, dann ist von Einverständnis nichts zu spüren.

Elyas: Die Grenzen sind natürlich fließend. Aber dieses Problem kann man nicht von heute auf morgen lösen. Dafür brauchen wir Bildung und soziale Erziehung. Von den islamischen Organisationen wird erwartet, das wir all das leisten, aber wir haben gar nicht die Mittel dazu: Wir haben keinen islamischen Religionsunterricht, in dem wir Werte der Religion weitergeben können. Wir können keine Imame ausbilden, die in Deutschland aufgewachsen sind und die Gesellschaft hier kennen.

Ates: Da haben Sie Recht, hier wurde versagt. Der Islam ist nicht integriert worden.

Frau Ates, leisten in den Fällen, mit denen Sie betraut sind, islamischen Autoritäten einen positiven Beitrag?

Ates: Nein, eher nicht. Bei vielen in der Community ist überhaupt kein Bewusstsein dafür da, dass diese Probleme existieren.

Heißt das, die muslimischen Organisationen verschlechtern die Lage?

Ates: Ja, sie haben sie teilweise verschlimmert. Leider gibt es da keine Zusammenarbeit: Das ist auch etwas, was ich stark kritisiere.

Elyas: Das heißt doch nicht, dass wir nichts machen. Natürlich gibt es Imame und Moscheen, die sich dem Problem nicht stellen wollen. Aber das ist nicht die Mehrheit. Frau Ates, Sie betonen immer die negativen Fälle, aber die Mehrheit der Muslime ist anders: Nicht alle behandeln ihre Frauen schlecht, das gehört nicht zum Islam.

Ates: Der Imam muss auf die Menschen einwirken. Er muss der Elterngeneration beibringen, dass es zu einer modernen Gesellschaft gehört, dass Menschen sich ihren Partner selbst aussuchen. Aber wenn Imame es unterstützen, dass Mädchen von Sexualkundeunterricht oder vom Schwimmunterricht befreit werden und nicht mit auf Klassenfahrt dürfen, dann habe ich ein Problem damit.

Elyas: Wir bekräftigen die Familien darin, Kontakt zur Schule aufzunehmen und über den Unterrichtsinhalt und die Lehrmittel zu sprechen. Vielleicht kann man das eine oder andere weglassen. Aber auch die Mädchen sollen am Sexualkundeunterricht und an den Klassenfahrten teilnehmen. Allerdings müssen auch die Schulen auf die Bedenken der Eltern eingehen.

Ates: Was mich besonders umtreibt, ist das Thema der freien Sexualität. Das trennt, das teilt, das führt zu vielen dieser Besorgnis erregenden Entwicklungen. Die Mädchen werden so jung verheiratet, damit die Jungfräulichkeit nicht vorher verloren geht. Bei Ehrenmorden geht es darum, dass es der Mann nicht erträgt, das seine Frau jetzt mit einem anderen ins Bett geht. Jugendliche habe versteckte Liebschaften, weil Sexualität vor der Ehe verboten ist. Das ist ungesund. Solange über Sexualität nicht offen gesprochen wird, haben wir ein Problem.

Herr Elyas, sehen Sie das anders?

Elyas: Sicher. Der Islam erlaubt keine außerehelichen Beziehungen und Homosexualität. Die Ehe und die Familie ist der Mittelpunkt des Lebens.

Ates: Aber wie wird denn in der Gemeinde über Sexualität gesprochen?

Elyas: Warum müssen wir jetzt über Sexualität reden? Das ist doch nicht der Gegenstand der Diskussion.

Ates: Doch, das ist ein ganz zentraler Punkt.

Elyas: Es wird wenig darüber gesprochen. Aber es wird auch über andere Themen zu wenig gesprochen. Es gibt viele Defizite. Wenn man sein Augenmerk nur auf einen Aspekt legt, dann sieht es so aus, als wäre dies das einzige Problem.

Ates: Ich glaube, viele Probleme in den Familien entstehen, weil so wenig über Sexualität geredet wird. Natürlich kann man fragen: Welcher katholische Vater spricht denn mit seiner Tochter über Sexualität? Aber dieses Land hat nun mal eine sexuelle Revolution erlebt. Meine armen Eltern mussten es ertragen, dass im Bezirk Wedding, wo wir gewohnt haben, 500 Meter entfernt eine Kommune eine Ladenwohnung bezog. Die hatte natürlich keine Gardinen, stattdessen Matratzen auf dem Boden, und überall liefen nackte Männer und Frauen herum. Da kann ich sogar verstehen, das meine Eltern da einen Kulturschock erlebt und mich daraufhin eingesperrt haben. Die 68er tragen eine Mitverantwortung für diese Umstände. Keiner hat Rücksicht genommen auf die Menschen, die gekommen sind. Diese Rücksicht haben sie dann später nachgeholt – und weggeguckt bei all den Problemen, die es gab.

Elyas: Aber Frau Ates – es ist doch nicht so, als ob über all das nicht gesprochen wird. Bei uns zum Beispiel, im islamischen Seminar in Aachen, wird alle drei oder vier Monate über Themen wie Gewalt in der Ehe, über Sexualität oder psychische Probleme zwischen Eltern und Kindern geredet. Wir reden darüber, was erlaubt ist und was verboten. Für uns gibt es eben eine rote Linie. Das muss man auch akzeptieren.

Ates: Aber man muss auch akzeptieren, dass andere Menschen den Islam anders auslegen.

Elyas: Ich muss das akzeptieren, aber ich muss es nicht gutheißen.

Als Mittel gegen Zwangsehen wird eine Verschärfung des Ausländerrechts vorgeschlagen. Innenminister Schäuble will etwa das Nachzugsalter für ausländische Ehepartner auf 21 Jahre festlegen. Halten Sie das für sinnvoll?

Ates: Das ist eine Idee, die hilft, die Diskussion anzuregen. Ob es allerdings Zwangsheiraten verhindern hilft, daran habe ich großen Zweifel.

Elyas: Die Experten sagen, mit dem Vorschlag des Bundesinnenministers würde keine einzige Zwangsehe verhindert. Statt sich immer neuer Sanktionen auszudenken, macht es mehr Sinn, auf Bildung, Erziehung und Aufklärung zu setzen.

Von konservativen Politikern werden Sie, Frau Ates, gerne als Kronzeugin für repressive Maßnahmen angeführt. Haben Sie damit kein Problem?

Ates: Damit habe ich kein Problem. Wir müssen auch über Sanktionen nachdenken. Sicher, allein mit Paragrafen werden wir keine Zwangsehe verhindern. Aber mit der öffentlichen Diskussion darüber schon.

Aber hat sich die Debatte nicht verschoben? Es geht viel weniger um die Unterstützung der betroffenen Mädchen und Frauen und viel mehr um Repression von Muslimen.

Nein. Meine Wahrnehmung ist eine andere. Und es wird immer Menschen geben, die die Aussagen von anderen für ihre Ziele verwenden. Das wird mich aber nicht daran hindern, meine Ziele weiterzuverfolgen. Sonst müsste ich den Mund halten, und das will ich nicht. Das Schweigen aus Angst ist unser aller größtes Problem.

Hatten Sie nie das Gefühl, vielleicht sollte ich mal ein bisschen vorsichtiger formulieren?

Ates: Nein, ausdrücklich nein. Ich differenziere mehr, als man mir unterstellt. Ich sage: Schaut genau hin, was in diesen Familien passiert. Dass so etwas missbraucht wird, das ist doch klar. Trotzdem bin ich dankbar, weil wir heute so viel weiter sind in der Diskussion.

Herr Elyas, wünschen Sie sich hin und wieder, dass Frauen wie Seyran Ates etwas zurückhaltender vorgingen?

Elyas: Manchmal schon. Sie werden ja auch von Muslimen oft falsch verstanden …

Ates: Die wollen mich auch falsch verstehen!

Elyas: Manche vielleicht. Aber trotzdem sollten Sie sich nicht das Wort verbieten lassen oder aufgeben. Man muss die Dinge eben immer wieder sagen und dabei aber auch auf den Kontext achten. Das ist sehr wichtig.