TRÜBES BRENNGLAS: DER „FOCUS“ IM WAHLKAMPF
: Sexualität im Kinderladen

GOTT UND DIE WELT

MICHA BRUMLIK

Der Streit über Daniel Cohn-Bendits „Der große Basar“ und der Umgang mit Sexualität in den Kinderläden wird im beginnenden Wahlkampf nicht nur von CSU-General Dobrindt ausgeschlachtet, sondern auch im Focus vom 27. Mai: „Kinder-Sex als Ideologie. Das dunkle Kapitel der Linken und Grünen – Zeugen über Missbrauch in den Kinderläden“.

Indes: Nichts von dem, was dort zu lesen ist, ist neu, vor allem: neue ZeugInnen gibt es schon gar nicht! Durch diskursive Verschiebungen werden schlampig Kontexte in eins gesetzt, die zu unterscheiden sind. So wird ein in der erziehungshistorischen Forschungsliteratur vielfach analysierter Text aus der Berliner Kommune 2, er erschien 1969 im Kursbuch, pauschal mit allen „Kinderläden“ gleichgesetzt. Als Zeugin wird zudem die Autorin Sophie Dannenberg aufgerufen, die 2004 den autobiografisch gefärbten Roman „Das bleiche Herz der Revolution“ veröffentlicht hat – mit dem vorausgeschickten Bekenntnis: „dieser Roman beschreibt den Zeitgeist, nichts anderes. Reale Personen sind weder abgebildet noch gemeint.“ Im Focus thematisiert Dannenberg das Problem, dass ihre Eltern glaubten, ihre Tochter beim Beischlaf zuschauen lassen zu müssen. Aber: Gerade in diesem Fall geht es eben nicht um Missbrauch in einem Kinderladen, sondern um die eigenen Eltern – zu Hause!

Wie viele Kinderläden in der Bundesrepublik existierten, wissen wir bislang nicht, ebenso wenig, wie viele Kinder dort sozialisiert wurden. Für Westberlin lässt sich aufgrund neuerer Forschungsergebnisse immerhin sagen, dass von 1970 bis 1974 die Zahl von 58 auf über 300 Kinderläden wuchs. Ihre Konzepte waren heterogen: Meistens handelte es sich um Selbsthilfeinitiativen aus dem akademischen Milieu, in denen sich Eltern mit hohem zeitlichen Engagement – vor der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus – der Frage gewidmet haben, wie ihre Kinder zu selbstbestimmten Personen erzogen werden können. Dass sie dabei einem freieren Umgang mit der Sexualität einen wesentlichen Stellenwert beimaßen, ist ihrer Rezeption der Kritischen Theorie, der Psychoanalyse, insbesondere aber den Texten Wilhelm Reichs geschuldet. In der hohen Bedeutung, die der kindlichen Sexualerziehung zukam, und darin, nicht immer deutlich genug zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität unterschieden zu haben, lag einer der theoretischen Irrtümer dieser Pädagogik.

Allerdings ist die Suche nach freieren Formen der Sexualaufklärung, die sich nicht auf Tabuisierung und das Onanieverbot beschränkten, wie in den traditionellen, häufig kirchlichen Kindergärten der 1960er Jahre üblich, vor dem Hintergrund der sexuellen Liberalisierung der 1970er Jahre zu sehen. Sie aber war eine breite gesellschaftliche Bewegung, die keineswegs nur das linksalternative Milieu betraf: Das heute indizierte Sexualaufklärungsbuch „Zeig mal“ – es erschien 1974 in einem kirchlichen Verlag – wurde von der evangelischen Kirche, der GEW und sogar in einer Polizeizeitschrift als vorbildlich gelobt. Die Kinderladenbewegung selbst wurde von dem Fernsehjournalisten G. Bott unterstützt; sein Film „Erziehung zum Ungehorsam“ aus dem Jahre 1969 (NDR) und das von ihm herausgegebene gleichnamige Buch trugen zur Popularisierung der Kinderläden bei.

Einsprüche gegen problematische Entgrenzungen im Zuge der sexuellen Liberalisierung hat früh die Frauenbewegung, die demselben attackierten linksalternativen Milieu zuzuordnen ist, erhoben. Bei alledem zeichneten sich die Kinderläden – radikal anders als die Odenwaldschule und katholische Internate – gerade nicht durch Abschottung nach außen, sondern durch bewusst gesuchte Öffentlichkeit aus. Fast immer waren in den Kinderläden viele Erzieher und Erzieherinnen sowie Eltern anwesend; mehr noch: Passanten sollten sich „an der großen Schaufensterscheibe […] von außen die Nase platt drücken“ – so eine Schrift der Berliner Kinderläden 1971. Noch immer gilt: Bislang gibt es keine Zeugen für Missbrauch in den Kinderläden.

■  Micha Brumlik ist Erziehungswissenschaftler und Publizist.

■  Meike S. Baader ist Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Universität Hildesheim und Erziehungshistorikerin. Sie leitet das Forschungsprojekt zur Geschichte der Kinderläden 1967–1977.