Tintensucht, lebenslänglich

Ein kleiner Junge und späterer Hollywood-Schauspieler allein unter Frauen und auf Vatersuche: Mit „Bis ich dich finde“ hat der amerikanische Erfolgsautor John Irving seinen dicksten, autobiografischsten und stringentesten Roman geschrieben

John Irving versteht es, aus den psychischen und körperlichen Beschädigungen seiner Figuren erzählerisches Kapital zu schlagen

VON GERRIT BARTELS

Noch vor vier Jahren schien es, als hätte der amerikanische Schriftsteller John Irving nach mehreren 800- bis 900-Seiten-Dickleibern endlich ein neues Romanmaß gefunden, ja als wäre er womöglich gar seinem Schriftsteller-Credo untreu geworden, niemals etwas wegzuwerfen. Sein damaliger Roman „Die vierte Hand“ entfaltete sich nämlich auf bescheidenen 450 Seiten und war trotzdem ein typischer John-Irving-Roman: reich an erzählerischen Umwegen, fluffig und unterhaltsam. Und auch vorsichtig abseitig, erzählte er doch die Geschichte eines Mannes, der seine linke Hand durch den Biss eines Zirkuslöwen verlor und nach einer Handtransplantation einen ganz neuen Charakter entwickelte.

Irvings neuer Roman „Until I Find You“, der im Juli vergangenen Jahres in den USA erschien und nun auf Deutsch unter dem Titel „Bis ich dich finde“ vorliegt, belehrt zeitknappe Irving-Fans eines Besseren: Auf über 1.100 Seiten hat Irving dieses Mal seinen Erzählteppich ausgerollt. Das Erstaunliche aber ist, dass diese vielen Seiten ihre Berechtigung haben, dass trotz mancher verständlicher Länge und erzählerischer Untiefe Irving sich nicht auf irgendwelchen Seitensträngen und in Nebenhandlungen verzettelt oder er sich gar an der Romankonstruktion verhebt.

Beides, der persönliche Seitenzahlrekord und die weitgehende Stringenz, mögen damit zu tun haben, dass „Bis ich dich finde“ Irvings bislang autobiografischster Roman ist. Anlässlich der Veröffentlichung in den USA hat er in diversen Interviews erzählt, dass ihn während der Arbeit ganz überraschend eines seiner Halbgeschwister aufgesucht und über das weitere Leben seines leiblichen Vaters in Kenntnis gesetzt habe: Dieser hatte ihn und seine Mutter zwei Jahre nach seiner Geburt verlassen, ohne sich jemals wieder zu melden. Ein Rührstück, wie geschaffen für einen Irving-Roman, allerdings ohne Happy-End: Irvings leiblicher Vater starb 1996. Eine Geschichte aber, die gerade nach der Lektüre von „Bis ich dich finde“ besonders diejenigen bestätigt, die Werk und Schriftstellerbiografie gern miteinander abgleichen und immer davon ausgegangen waren, dass Irvings Romanwelt mit den vielen alleinerziehenden Müttern und vaterlosen Jungen, den vielen Witwen, Waisen und Halbwaisen stark autobiografisch grundiert und inspiriert ist.

Doch selbst ohne Offenbarungen von der Art, dass er im Alter von 11 Jahren das erste Mal Sex mit einer viel älteren Frau hatte oder er in seinen Romanen immer wieder die Vater-Leerstelle zu füllen versuchte, steckt man bei „Bis ich dich finde“ vom ersten Satz an tief drin im semibizarren, immer von irgendwelchen Abwesenheiten dominierten Irving-Kosmos: Der vierjährige Jack Burns und seine Mutter Alice, eine gelernte Tätowiererin, suchen 1970 in den skandinavischen Hauptstädten seinen Vater und ihre große Liebe, einen jungen, schönen Mann namens William. Dieser hatte Alice einst in ihrer schottischen Heimatstadt Edinburgh nach einer Tattoo-Session im Tätowierstudio ihres Vaters geschwängert und kurz darauf verlassen. Da William Kirchenorganist ist und ein so genannter Tintensüchtiger, der jeden Flecken seines Körpers tätowiert haben möchte, sind die Schauplätze in diesem mit „Die Nordsee“ übertitelten Anfangskapitel neben den Hotels, in denen Jack und seine Mutter absteigen, vor allem Tätowierstudios und Kirchen, mitsamt dem Figurenpersonal aus Tätowierern, Tätowierten in spe und Kirchenmusikern.

Leider hat man gerade zu Beginn Schwierigkeiten, sich in den wie üblich sanften Erzählfluss von Irving zu begeben – noch eine Stadt, noch ein Hotel, noch eine Kirche, noch ein Tätowierstudio. Das Muster gleicht sich, und der Vater ist immer schon verschwunden, wenn Mutter und Sohn aufkreuzen. Als die Suche in Amsterdam ihr Ende findet – Jack und Alice werden von nun an im kanadischen Toronto leben –, ist man doch erleichtert, dass die Geschichte mit Jacks Eintritt in die St.-Hildas-Mädchenschule in Toronto ein zweites Mal beginnt.

Nun hat John Irving sein gewaltiges Erzählstück selbstredend genau durchkomponiert – das Nordsee-Kapitel ist die Ouvertüre, spät im Roman macht sich Jack Burns ein weiteres Mal in Nordeuropa auf die Suche nach der verlorenen Zeit und frischt seine unzuverlässigen Kindheitserinnerungen auf. Die Wege nach Guermantes und Mésiglisé werden jetzt eins, auch wenn es in diesem Roman naturgemäß holpriger zugeht als bei Proust. Die damalige Suche entpuppt sich als eine von seiner Mutter inszenierte William-Burns-Abwehrschlacht, und wiederum arbeitet Irving Ort für Ort, Kirche für Kirche, Tätowierstudio für Tätowierstudio und Erinnerung für Erinnerung routiniert und vorhersehbar ab.

Seitenverschlinger-Qualitäten haben jedoch die anderen Teile des Romans. Hier zeigt sich Irving sich, da er chronologisch Jacks Leben erzählt, von seiner besten Seite. Hier beweist er, wie geschickt er Tragisches und Lebensschweres einfach und unterhaltsam darzustellen weiß, wie er aus psychischen und körperlichen Beschädigungen seiner Figuren erzählerisches Kapital zu schlagen versteht und weder in Rührseligkeit ertrinkt noch mit erhobenen Zeigefingern moralisch herumwedelt.

Jack wächst also ausschließlich bei Frauen auf, kommt auf eine Mädchenschule und wird mit 10 Jahren von einer erwachsenen Frau vergewaltigt, was ihn vage traumatisiert und ihm zeitlebens eine Affinität zu älteren Frauen einbringt. Schließlich ergreift er den Schauspielerberuf, überzeugt vor allem in Transvestitenrollen und schafft damit auch den Sprung nach Hollywood, wo er bald ein Star wird.

Ein Mann ohne Vater, allein unter Frauen, ein Schauspieler dazu: Daraus lässt sich ein schönes Psychogramm basteln. Bei Jack paaren sich ausgeprägte Ich-Störungen mit einem ausgeprägten Ego, eine ausgeprägte Sehnsucht nach tragfähigen Beziehungen mit einer ausgeprägten Beziehungsunfähigkeit. Jack Burns ist ein Mann, der nicht weiß, wer er wirklich ist, weil er immer nur Rollen spielt, im richtigen Leben wie auf der Bühne, der Billy Rainbow, Harry Mocco oder Jack Stronach ist, aber nie Jack Burns; und der zu „verdreht“ ist, wie es ihm eine seiner drei Lebensfrauen mit auf den Weg gibt, um eine brav-bürgerliche Liebesbeziehung zu führen.

Nach und nach bockt Irving diesen Jack Burns in voller Größe (und mit einem nur mittelmäßig großen Penis) auf, begibt sich in seine Seelenwinkel, ohne diesen jedoch auf den letzten Grund zu gehen – das würde den Erzählflow ja nur hemmen – und setzt ihn letzten Endes voller Vertrauen auf die Couch einer Psychotherapeutin. Dabei gelingen ihm zum Teil umwerfende Szenen, nicht zuletzt solche, die um eine Verfilmung förmlich betteln. Etwa die Beerdigung von Jacks Mutter, auf der sich Tätowierer und Biker in der Schulkapelle von St. Hildas mit braven Kirchgängerinnen die Klinke in die Hand geben und alle „God save the Queen“ singen.

Ebenfalls imponierend, wie Irving sich unentwegt unterhaltsame Filmplots für Jacks zahlreiche Filme ausdenkt und schildert, wie er seitenweise auch die Romane von Jacks bester Freundin und ewiger Penishalterin Emma mit Inhalt füllt und dabei seine vom Ringen gestählten Muskeln zeigt: „Seht her, was ich für ein toller Geschichtenerzähler ich bin.“ Er ist es, er ist es, man merkt da, aus was für einem Fundus Irving schöpft, und ihm gelingen dazu immer wieder bedenkenswert schöne Sätze wie „Wenn man zu viele Filme gesehen hat, bleibt die Zeit stehen: Niemand wird alt oder stirbt“, die bei der Masse an Stoff oft unterzugehen drohen.

Nicht zuletzt verwertet Irving eigene Hollywood-Erfahrungen, die er beim Schreiben und Verkaufen des mit einem Oscar gekrönten Drehbuchs für seinen von Lasse Hallström verfilmten Roman „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ gemacht hat: Als Jack Burns einen Roman Emmas zu einem Drehbuch umschreibt, erhält er dafür einen Oskar, und die Preisverleihung, die Partys vor der Verleihung und danach, all das ist hier kein Kino, sondern so, wie ein Normalsterblicher sich Hollywood schon immer vorgestellt hat: ein Triumph der Wirklichkeit über die Fiktion in der Fiktion, mit Hollywood-Größen wie Kevin Spacey, der Jack den Oskar überreicht, wie einem spaßhaften boxenden Tom Cruise backstage oder einem Arnold Schwarzenegger auf der Oscar-Preisträger-Herrentoilette.

So lebensecht-traumhaft die Hollywood-Szenen sind, so sehr ist „Bis ich dich finde“ selbst eine Art Traumfabrik. Mag Bob Dylan für den „Bis ich dich finde“-Soundtrack aufdringlich in Beschlag genommen werden, mag angedeutet werden, wie die Tätowier-Klientel sich im Lauf der Zeit verändert hat (von Hippie zu Hardcore) – die historischen Zeitläufe bleiben wie so oft bei Irving außen vor. Die Zeit unter Ford, Carter, Reagan, Bush und Clinton, das Ende des Kalten Krieges und auch der 11. September spielen für Jack keine Rolle. „Bis ich dich finde“ agiert ohne falsche Verschränkungen seiner Figuren mit der Zeitgeschichte und bildet ein eigenes Erzähluniversum.

So passt es ins Romanbild, dass das glückliche Ende auf einem seltsam fremden Planeten spielt und ein eher schwaches, nach mehr als tausend Seiten gar verzichtbares ist. Jack findet seinen Vater in einem Sanatorium in Zürich, wofür Fitzgeralds „Tender is the night“ Pate gestanden hat, der fünfköpfige Ärztestab aber stark ins Karikaturistische geht. Dazu macht Irving sehr peinlich Werbung für Antidepressiva neueren Typs und lässt dann auch dem Kitsch freien Lauf, als Jack seinem Vater und seiner Halbschwester immer wieder beteuert: „Ich liebe dich und jeden Zentimeter deiner Haut.“ Dass John Irving der stets heil sein müssenden Kleinfamilie zu ihrem ultimativen Recht verhelfen will, impliziert dieses Ende und überhaupt sein Roman aber nicht: Die Unterhaltung kommt für ihn immer vor der Botschaft, Traumata hin, Traumata her.

John Irving: „Bis ich dich finde“. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl. Diogenes, Zürich 2006, 1.139 S., 24,90 Euro