Hin und weg

Evi Krems ist seit 21 Jahren verheiratet. Mit einem Mann, der werktags nie nach Hause kommt. Und sie ist „froh, wenn der wieder weg ist“

AUS PHILIPPSREUT HEIKE HAARHOFF

Immer Montagmorgens gegen drei ist in der Gemeinde Philippsreut im Bayerischen Wald ein Lichtspiel zu beobachten. Aus jedem zweiten Haus in der Von-Lamberg-Straße dringen simultan, so als hätten sich die Nachbarn zu dieser nächtlichen Stunde verabredet, helle Strahlen durch die Fensterläden nach draußen, erst aus den Badezimmern, dann aus den Küchen. Jetzt, im Winter, leuchtet die schmale, an einem Hang gelegene Dorfstraße besonders. Der Schnee reflektiert das Licht.

Der Zauber dauert nur wenige Minuten. Er währt so lange, wie die Männer in den gepflegten, weiß gestrichenen Einfamilienhäusern mit Holzveranden sich gewaschen, ihren Kaffee hinuntergespült und ihre Brote für unterwegs eingepackt haben. Dann wird es ungemütlich. Prall gefüllte Reisetaschen, Kleidung und Lebensmittel für eine ganze Arbeitswoche werden in Kofferräumen verstaut, Zündschlüssel ungeduldig gedreht. Motoren laufen warm. Die Holzveranden bleiben leer. Keine der zurückbleibenden Frauen winkt den Männern aus der Von-Lamberg-Straße nach. Ein Autokorso setzt sich in Bewegung. Hin zur B 12, die nach Passau und zu den großen Autobahnen führt und dann weiter nach München, nach Landshut, nach Nürnberg. Oder auch nach Leipzig oder Dresden, je nachdem, wo gerade die Baustelle für die kommende Woche ist.

Dann ist es still. Es ist der Moment, dem Evi Krems, Von-Lamberg-Straße 23, zu Beginn jeder neuen Woche, nein, nicht entgegenfiebert, das zu behaupten wäre übertrieben. Aber sie erwartet diesen Moment mit einer gewissen Vorfreude: „Ich genieße die Zeit, wenn ich alleine bin.“ Sie sagt das nicht flüsternd, nicht heimlich und nicht erst, wenn sie sicher ist, dass ihr Mann Bernhard Krems außer Hörweite ist.

Evi Krems ist 42 Jahre alt und seit 21 Jahren verheiratet. Mit einem Mann, der Zimmerer ist und dessen wechselnde Arbeitsstellen seit zwei Jahrzehnten nur eine Konstante aufweisen: stets sind sie hunderte Kilometer entfernt von Philippsreut. Weswegen ihr Mann, wie die meisten Männer aus der Von-Lamberg-Straße, werktags grundsätzlich nicht nach Hause kommt. Seit 21 Jahren. Evi Krems ist aus dem Alter heraus, in dem eine Frau ihrem Mann etwas vorflunkert.

„Ich sag’s ganz offen: Ich bin froh, wenn der wieder weg ist.“ Sie sagt dies bereits am Sonntagmorgen, wie beiläufig, während sie in der Küche Paprikapulver auf ein Huhn für das letzte gemeinsame Mittagessen streut, bevor er am nächsten Morgen wieder abreisen wird. Ihr Mann sieht ihr zu. Er sitzt am Küchentisch, der Kaffee dampft aus seinem Becher, er raucht Kette, tschechische Viceroy, bis zur Grenze sind es nur zwei Kilometer. Er ist 45 Jahre alt, er ist in Philippsreut geboren und kann erzählen über die Besonderheiten des Lebens in der Von-Lamberg-Straße, er sucht nach Worten, schließlich sagt er: „Im Endeffekt – du hast ja nichts von der Familie.“ Es klingt wie ein Fluch.

Die Geschichte der Von-Lamberg-Straße, benannt nach dem Passauer Fürstbischof Johann Philipp Graf von Lamberg, der hier im Jahr 1692 zur Sicherung der nahen Grenze sechs Häuser anlegen ließ und so den Ort Philippsreut gründete, ist eine Geschichte des Abschieds und der Wiederkehr, der Entfremdung und der Wiederannäherung, des Aufeinanderwartens und der Enttäuschung. Sie ist, banal gesprochen, die Geschichte der Wochenendpendler in Deutschland. Deren Zahl ist in den vergangenen zehn Jahren um 12 Prozent gestiegen, so stark wie keine andere Gruppe innerhalb der Berufspendler.

Als Bernhard Krems mit 16 aus der Schule kommt, hat er einen Wunsch: es anders hinzukriegen als der Vater. Der hat sein Leben auf der Straße verbracht, den Baustellen in ganz Bayern ist er hinterhergereist. Nicht aus Fernweh, sondern aus Existenznot. Das Klima im Bayerischen Wald nordöstlich von Passau ist rau, Landwirtschaft rentiert sich nicht, und von dem Tourismus, den es in der Region gibt, Bergwandern im Sommer und Skifahren im Winter, kann nicht jeder profitieren.

Philippsreut ist malerisch, das macht sesshaft. Und Philippsreut ist arm, das macht mobil. Bernhard Krems erkennt früh, was dieser Zusammenhang bewirkt: Der Vater schickt Geld nach Hause, viel Geld, die materielle Not daheim ist überwunden. Aber den Kindern, der eigenen Frau bleibt der Vater fremd. Bernhard Krems will anders sein als einer, der sich auf dem Bau die Knie und den Rücken ruiniert, der vier Abende pro Woche im Container verbringt, 2,40 Meter auf 6 Meter auf vier Männer, und dort zusehen muss, wie Kollegen Dosenbier knacken oder sich die Fußnägel schneiden. Er will anders sein als einer, der Geld heimschickt und am Wochenende nachschaut, wohin es geflossen ist – in ein weiß gestrichenes Einfamilienhaus mit Holzveranda beispielsweise, das ihm gehört und in dem er lebt wie ein Gast: „Du hast keine Zeit, dich zu kümmern“, sagt er. „Nicht um die Öllieferung für den nächsten Winter, nicht um die Flegeleien deines Kindes. Die Frau ist der Boss.“

Er sucht eine Lehrstelle als technischer Zeichner, er findet keine. Er lernt Kellner, immerhin kann er da jeden Abend nach Hause fahren. „Aber als Kellner hast du nicht so viel besessen, dass du die Familie ernähren konntest.“ Bernhard Krems schnippt die Asche in eine kleine Schale. Familiengeschichte wiederholt sich manchmal unfreiwillig.

1984, mit 24 Jahren, heiratet er, kurz darauf wird seine Frau schwanger. Als sein Vater ihm zuredet – Junge, du lässt dich zum Zimmerer umschulen und kommst mit mir – widerspricht er nicht. Evi Krems sagt: „Ich komme selbst aus einer Pendlerfamilie. Ich dachte, ich wüsste, worauf ich mich einlasse.“ Und dann hat sie sich doch allein gelassen gefühlt, mit dem Hausbau, mit dem Holzhacken im Sommer und dem Schneeschippen im Winter, mit der Wahl der Schule für den Sohn und mit dem Wissen, dass es den Nachbarinnen und ihren Müttern und Großmüttern genauso geht und gegangen ist und trotzdem jede für sich kämpft. So als gelte es, den Schein zu wahren, alles sei in bester Ordnung mit einem Kleinfamilienleben, das sich auf 48 bis 60 Wochenstunden beschränkt. Vielleicht ist es aber auch bloß schwer, sich etwas anderes vorzustellen, wenn der familiäre Ausnahmezustand die Norm ist.

Knapp 800 Menschen leben in Philippsreut. Jeder zweite Haushalt hat mindestens einen Pendler in der Familie. Wenn man die Von-Lamberg-Straße auf und ab geht, diese schöne verschneite Dorfstraße am Hang, dann gleichen sich die Lebensentwürfe hinter den Hauseingängen sehr. Warum auch nicht? Lässt nicht die Politik allabendlich übers Fernsehen mitteilen, dass Mobilität die Grundvoraussetzung der modernen Berufstätigkeit sei?

Bei Einfamilienhausnummer 7 öffnet Manfred Kilger, 42 Jahre, im Berufsleben Baggerfahrer auf Montage, im Privatleben geschieden und Vater von zwei Kindern. „Natürlich geschieden wegen der Pendelei“, sagt er ohne Umschweife und führt ins Wohnzimmer. Er hat es ja versucht, loszukommen von diesem Sog, in den er sich jeden Montagmorgen aufs Neue hineinziehen lässt, wenn er im Auto aus der Garage rollt. Als seine Tochter geboren wurde, hatte er sogar eine Motivation, sich zu verändern: das eigene Kind aufwachsen zu sehen. Und er hatte ein seltenes Angebot: bei einer Baufirma im Nachbarort einzusteigen. Vier Tage hielt er es aus. Dann schmiss er den Job. Nicht weil die Arbeit schlecht gewesen wäre. Sondern weil ihm die Situation zu Hause unerträglich erschien. Nach Jahren der Abwesenheit fiel es ihm jedenfalls nicht mehr so leicht, mit seiner Frau ins Gespräch zu kommen, sich wieder an ihre Art zu gewöhnen, den Alltag zu erledigen. „Ich hatte Heimweh nach dem Wohnheim. Wir hatten dort gemeinsam musiziert, zusammen getrunken, ich wollte dahin zurück, alle meine Freunde waren doch auf dem Bau gelandet.“

Die Winter waren am schwierigsten. Für Baggerfahrer gibt es im Winter wenig zu tun. In manchen Jahren war Manfred Kilger drei Monate am Stück arbeitslos. Aber er musste doch raus! Also fuhr er mit seiner Tochter Skirennen, jeden Tag, die Pisten liegen in Philippsreut ja vor der Haustür. Mit elf war sie Deutsche Meisterin ihres Jahrgangs. Manfred Kilger sagt, er habe schon gedacht, dass solches Engagement daheim honoriert würde. Als seine Frau ihm dann aber verkündete, sie habe keine Gefühle mehr für ihn, da dachte er: „So was kommt vor bei Frauen.“ Als sie ihm mitteilte, dass sie eine eigene Arbeit und eine eigene Wohnung gefunden habe, da sagte er sich: „Das Haus willst du unbedingt behalten. Aber du kannst ein Haus nicht die ganze Woche über allein lassen.“

Binnen drei Wochen, erzählt Manfred Kilger, habe er eine neue Freundin gefunden. Eine lebenstüchtige Frau, die vor zwanzig Jahren und ohne ein Wort Deutsch zu sprechen aus Polen nach Bayern gekommen sei und hier zwei Kinder allein groß gezogen habe. Mittlerweile wohnt Klementine Stvorik bei ihm. Sie sagt: „Ich habe meine Arbeit, ich habe meine Kinder, jetzt habe ich dieses Haus. Ich bin es gewohnt, viel allein zu sein.“ Nur an den Wochenenden, da achte sie sehr streng darauf, dass Manfred Kilger und sie tatsächlich gemeinsam etwas unternähmen: „Es soll ja nicht wieder schief gehen.“

Neulich samstags zum Beispiel, da waren sie abends bei einer Feier in Philippsreut eingeladen, zusammen mit Evi und Bernhard Krems. Das Gespräch kam auf die Zukunft der Kinder, die es natürlich einmal besser haben sollten. Da erzählte Bernhard Krems, dass er seinen Sohn kürzlich zum ersten Mal mitgenommen habe auf eine Baustelle. Und Evi Krems sagte fröhlich: „Der hat Blut gerochen. Der ist bald auch weg.“