Ein deutscher Held

FINANZCASINO VON ULRIKE HERRMANN Die Deutschen schwärmen von Ludwig Erhard. Warum nur?

■ ist Wirtschaftskorrespondentin der taz. Zuletzt schrieb sie an dieser Stelle über die Gemeinsamkeiten der Finanzkrisen von Zypern und Lehman Brothers: „Die Welt von McKinsey“ (die tageszeitung vom 30. 3. 2013).

Ein Held kehrt zurück: Ludwig Erhard. Jahrelang hatte fast niemand mehr an diesen einstigen CDU-Wirtschaftsminister und Kanzler gedacht, doch plötzlich sind Linke und Konservative von ihm gleichermaßen begeistert. Sahra Wagenknecht zitiert ihn regelmäßig, und jüngst zierte sein rundes Gesicht die Titelseite des Handelsblatts.

Erhard soll vieles sein: ein grandioser Theoretiker der Marktwirtschaft, der Erfinder der Währungsreform von 1948 und natürlich der Vater des „Wirtschaftswunders“ nach dem Zweiten Weltkrieg. In diesem Narrativ ist Erhard ein überragender Denker und Staatsmann, der Deutschland in der Not gerettet und zu neuer ökonomischer Größe geführt hat.

Im Institut für Fertigwaren

Nichts davon stimmt. Erhard war weder ein interessanter Theoretiker noch ein befähigter Praktiker, sondern ein typischer Opportunist, der ohne eigenes Zutun zufällig in ein Amt gespült wurde. Seine einzige Fähigkeit bestand darin, den gekränkten Nationalstolz der Deutschen zu bedienen, die nach den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts dringend eine neue Legende benötigten, um sich selbst noch im Spiegel sehen zu können. Diese Legende lieferte Erhard, indem er sich als den Architekten eines Wirtschaftswunders inszenierte, das angeblich ganz und gar deutsch war. Das Label hieß „soziale Marktwirtschaft“.

Bis heute glauben viele Bundesbürger, dass nur Deutschland ein „Wirtschaftswunder“ erlebt hätte und dass nur hier eine „soziale Marktwirtschaft“ existiert. Dies ist jedoch Unsinn. Frankreich wuchs bis zum Ölpreisschock 1973 ebenfalls stürmisch, obwohl Ludwig Erhard dort nichts zu sagen hatte. Gleiches galt für die anderen westeuropäischen Länder.

Zugegeben, in Frankreich fielen die Wachstumsraten etwas geringer aus als in Deutschland, doch der Grund ist denkbar schlicht. Kein westeuropäisches Land war nach dem Krieg so zerstört wie die Bundesrepublik. Die anderen hatten schon intakte Häuser, sie musste erst welche bauen. Es ist absurd, auf dieses Zusatzwachstum stolz zu sein, das nur die Reparatur einer Katastrophe war. Aber es wundert nicht, dass Erhard diese Zusammenhänge ignorierte: Die Nazizeit hatte er als braver Mitläufer verbracht. Er war nicht unschuldig an dem Untergang, den man nun kollektiv verdrängen wollte.

Während berühmte Theoretiker der Marktwirtschaft wie Wilhelm Röpke oder Alexander Rüstow 1933 in die Türkei flohen, blieb Erhard auf seinem Stuhl im „Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigwaren“ in Nürnberg sitzen und diente weiterhin als wissenschaftlich verbrämter Lobbyist der Industrie. Unter anderem befasste er sich mit der damals dringenden Frage, wie man die besetzten Gebiete Polen, Lothringen und Österreich ökonomisch ins Tausendjährige Reich integrieren könnte.

Der Lückenbüßer

Nach dem Krieg nahm Erhards Karriere erst richtig Schwung auf, als plötzlich ein Lückenbüßer gesucht wurde: Im Januar 1948 wurde der bisherige Wirtschaftsdirektor in der Bizone, Johannes Semler, entlassen, weil er taktisch unklug die Nahrungsmittelhilfen der USA als „Hühnerfutter“ bezeichnet hatte. (Falls sich langjährige taz-Leser über die Namensgleichheit wundern: Ja, dies war der Vater unseres verstorbenen Kollegen Christian Semler.)

Der amerikanische Oberbefehlshaber Clay entschied sich danach für Erhard, weil man ihm erzählt hatte, dass dieser „sehr gutmütig sei und gern Reden über das freie Unternehmertum halte“. Clay wollte nicht schon wieder einen Deutschen, der unberechenbar störte. So berichtete es jedenfalls später der Harvard-Ökonom John K. Galbraith, der damals für die US-Regierung in Deutschland unterwegs war.

Erhard war erst fünf Monate im neuen Amt, als die Währungsreform am 20. Juni 1948 in Kraft trat. Selbst wenn er ein ausgewiesener Geldtheoretiker gewesen wäre, hätte er in dieser kurzen Zeit niemals eine neue D-Mark konzipieren und einführen können. Tatsächlich war Erhard auf diesem Gebiet Dilettant, und seine Dienste wurden auch nicht gebraucht. Die Währungsreform wurde stattdessen von einem anderen Deutschen und zwei Amerikanern ausgearbeitet: von Gerhard Colm, der 1933 in die USA emigriert war, Raymond W. Goldsmith und Joseph Dodge. Bei ihren Beratungen war Erhard nicht dabei, und er wurde auch nicht konsultiert. Trotzdem heimste er später ungeniert das Lob ein.

Die Reden aneinandergeklebt

Denn ein großes Talent besaß Erhard tatsächlich: Ohne jede Scham konnte er sich in Szene setzen. Erhard hielt sich für einen großen Denker, der den Deutschen ständig wichtige Einsichten mitzuteilen habe. Ein Dokument dieser Selbstüberschätzung ist sein Buch „Wohlstand für alle“, das 1957 erschien und das in Deutschland neuerdings mit einer Ehrfurcht zitiert wird, als handele es sich um ein bedeutendes theoretisches Werk.

Ludwig Erhard hielt sich für einen großen Denker, der den Deutschen ständig wichtige Einsichten mitzuteilen habe

Dabei hat Erhard dieses Buch noch nicht einmal selbst geschrieben. Stattdessen half ihm Wolfram Langer, der damals das Bonner Hauptstadtbüro des Handelsblatts leitete. Allzu viel Arbeit hatte Langer allerdings nicht mit dem Buch: Über weite Strecken wurden nur die Reden aneinandergeklebt, die Erhard so gern hielt.

Einige seiner Einsichten klingen sogar gut, wenn man sie ohne den Kontext zitiert. So mahnte Erhard damals immer wieder, dass die Löhne genauso stark steigen müssten wie die Produktivität. Das hören heutige Linke gern angesichts der Stagnation der Reallöhne. Doch Erhard sprach in einer Zeit der Vollbeschäftigung, als die Löhne galoppierten. Er wollte den Anstieg der Gehälter bremsen.

Auch als Minister blieb er der Lobbyist der Industrie, der er so lange gewesen war. Dabei kamen manchmal sogar wirkliche Erkenntnisse heraus – wenn sie ihm nützten.

Erhard sei es gegönnt, dass er es mit gedankenfreiem Opportunismus bis zum Kanzler geschafft hat. Aber es ist beängstigend, dass Linke und Konservative glauben, mit seinen Zitatfetzen eine schwere Eurokrise meistern zu können.