Die Jäger sind müde geworden

Meinhard Miegel fällt zu Massenarbeitslosigkeit, Alterung der Gesellschaft und Staatsverschuldung wenig ein. Er appelliert lieber an die Moral der Bildungsbürger, um eine „Epochenwende“ zu erreichen

VON BARBARA DRIBBUSCH

Von dem US-amerikanischen Psychologen Abraham Maslow stammt der Satz: Wenn das einzige Werkzeug des Menschen ein Schlüssel wäre, dann würde er sich jedes Problem nur als Schloss vorstellen können. Mit anderen Worten: Unsere Sichtweise auf ein Problem ist geprägt von der Lösung, die wir glauben, zur Verfügung zu haben. Dies trifft auch auf die Debatte über die Krise zu, in der sich Deutschland angeblich befindet. Das neueste Werk des Sozialforschers Meinhard Miegel, „Epochenwende“, behandelt den viel beschworenen drohenden Abstieg. Doch seine Gegenrezepte erweisen sich als Teil des Problems.

Miegel stellt ein bekanntes Krisentableau zusammen: Die Bevölkerung der früh industrialisierten Gesellschaften wird im Durchschnitt immer älter, der Anteil der Jugendlichen schwindet. Bis zum Jahre 2050 wird die Einwohnerzahl Europas um acht Prozent abnehmen. Gleichzeitig steigt der globale Konkurrenzdruck, die aufsteigenden Länder in Mittel- und Osteuropa und in Asien wollen ihren Teil vom Wohlstandskuchen haben. Auch dies drückt auf den hiesigen Jobmarkt.

Doch wie mit Alterung, Massenarbeitslosigkeit und hoher Staatsverschuldung umgehen? Miegel hält sich an die Vorschläge der 90er-Jahre: Ein staatlich subventionierter Niedriglohnsektor müsse her, nur noch eine Grundversorgung im Alter und bei Krankheit könnten die sozialen Sicherungssysteme künftig leisten.

Dies sind Vorschläge, die interessanterweise heute in der Wirklichkeit schon umgesetzt sind, wenn auch indirekt: Das Arbeitslosengeld II ist längst für Millionen von Menschen zu einer Art Grundsicherung geworden. Viele hunderttausend Langzeitarbeitslose verdienen sich etwas dazu oder ackern in 1-Euro-Jobs: Dies kann man schon als eine Art subventionierten Niedriglohnsektor betrachten. Und die Rente dürfte für viele künftig kaum die Höhe der heutigen Sozialhilfe überschreiten.

Interessant an Miegels Essay sind daher auch nicht die konkreten Vorschläge, sondern der moralische Appell, der sich durch die 300 Seiten zieht. Für Miegel wird der Niedergang des Westens nämlich von einem Verfall der Werte, insbesondere der Arbeitsmoral, begleitet. „Die Reihen der hungrigen Jäger haben sich in den zurückliegenden drei Jahrzehnten zumindest im wohlhabenden Westen sichtlich gelichtet. Die meisten sind noch immer arbeitsam und fleißig. Aber den Arbeitselan oder gar die Arbeitsbesessenheit ihrer Eltern und Großeltern, oder wohl richtiger: ihrer Groß- und Urgroßeltern haben sie – von Minderheiten abgesehen – nicht mehr.“

An anderer Stelle heißt es: „Auch ältere Deutsche haben gelegentlich Schwierigkeiten, mit der Lockerheit und Beschwingtheit vieler ihrer jüngeren Landsleute zurechtzukommen.“ Die „Generation Praktikum“, die sich unbezahlt abrackert, um in der Jobwelt einen Fuß in die Tür zu kriegen, wird sich in dieser Analyse kaum wiedererkennen.

Wenn es um die Beschwörung alter Tugenden geht, wird Miegel fast preußisch-militärisch. „Die Völker des Westens müssen wieder lernen, Verzicht zu üben“, schreibt er. Das „Schlüsselproblem aller westlichen Gesellschaften“ sei nämlich: „Ihnen fehlt es an Bildung und Haltung.“ Spätestens bei diesem Satz drängt sich der Verdacht auf, dass sich der „Krisendiskurs“ in Deutschland selbst in einer ernsten Krise befindet – und das wiederum macht das Buch denkwürdig.

Wenn nämlich vor allem an Werte wie „Haltung“ und „Bildung“ appelliert wird, um dem „Abstieg“ beizukommen, dann setzt sich die Debatte dem Verdacht aus, letztlich nur die Deutungshoheit über die Krise wiederherstellen zu wollen – und zwar die Deutungshoheit einer bürgerlichen Mitte, die sich schon immer im Besitz höherer Bildung und höherer Moral wähnte als die Unterschichtmilieus.

Ein solcher Krisendiskurs integriert aber nicht, sondern schottet nach unten ab. Er dient der Selbstvergewisserung des Bildungsbürgertums, das Angst hat vor der Selbstauflösung angesichts genau jenes wirtschaftlichen Drucks, den Miegel ja auch beschreibt. Mit Moral wird man jedoch nicht weit kommen in einer Zukunft, die in Deutschland die Lasten der Globalisierung und Alterung wieder einmal höchst ungleich auf die verschiedenen Milieus verteilt. Doch diese Verteilungsfragen anzusprechen ist derzeit offenbar nicht so angesagt.

Meinhard Miegel: „Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft?“. Propyläen Verlag, Berlin 2005, 311 Seiten, 22 Euro