Theater Rudolstadt vor dem Aus: Gerichtet!

Das Theater Rudolstadt kämpft um seine Existenz – und sei es mit einer furiosen Inszenierung von Goethes „Faust“. Vom Zustand in der Diaspora.

Sie bleibt ungerettet: Das Gretchen (Lisa Klabunde) in Rudolstadt. Bild: Christian Brachwitz

RUDOLSTADT taz | Neben der Station ist kein Leben. Keines jedenfalls, das auf quirlige Geschäftigkeit hindeutet. Das Bahnhofsgelände an diesem Sonnabend – wie hinterlassen. Das Gebäude – sucht neue Mieter. Aber wer will schon etwas in einem Gründerzeitschuppen ansiedeln, wenn zwischen dem Fluss und der Stadt eine Straße liegt, die vielleicht auch verbindet, hier aber jedenfalls trennt.

Und hier soll eine prima Inszenierung des „Faust“, erster Teil geboren worden sein? Rudolstadt in Thüringen. Lieblich die Landschaft eher, hoch über der Stadt, die einst fürstliche Residenz, buchstäblich thront das Schloss Heidecksburg. Sommers bildet die kleine Stadt in mittelalterlicher Anmutung die perfekte Kulisse für ein weltberühmtes Folkfestival; ganzjährig ist diese Gegend auch bekannt für Menschen, die rechtsradikalem Gedankengut nachhängen. Später wird Tim Bartholomäus, momentan Pressesprecher des Theaters von Rudolstadt sagen: 40 Kilometer von hier ist das geboren worden, was die NSU ist, Chiffre für landläufigen Horror.

Die Fußgängerzone entlang etliche Speisegaststätten, allesamt in migrantischer Hand, asiatisch einige, zwei auch mit Döner als Kern der Speisekarte. Die Stadt legt sich wie an jedem Samstag zur Ruhe. Es verblüfft, eben aus der Metropole angereist, wieder zu fühlen, wie geräuscharm Städte schon samstags kurz nach zwölf Uhr sein können, wenn alle ihre Geschäfte besorgt haben.

Im Theater aber wird tüchtig der Abend vorbereitet. Pressesprecher Bartholomäus, ein in Berlin studierter Medienmann in den Zwanzigern, der als Schwangerschaftsvertretung in seiner alten Heimat den Job annahm, führt gern durch das kleine Kulturensemble, leicht versetzt zwischen neuem Einkaufszentrum, Bahnhof, Durchfahrtsstraße gen Erfurt und Cineplexkino gelegen. Im Souterrain des Hauses werden Kulissen für den Abend parat gelegt.

Diskretion wäre Unfug

Bartholomäus zeigt wie beiläufig auf eine schattierte Stelle im Mauerwerk. Sie stammt von irgendeiner Überschwemmung der Saale, die man vom Theater aus nicht sieht, weil sie hinter den Gleisen liegt und, aller momentanen Gemächlichkeit ihres Fließens zum Trotz, gefährlich anschwellen kann. Auch das Theater ist Opfer ihres Wassers gewesen. Die Leute vom Theater nahmen es lapidar, die Show geht weiter, Wasser fließt wieder ab, der Rest trocknet. Abends also wird das Silberbesteck des deutschen Theaterkultursinnens aufgelegt, Goethes „Faust“, Teil 1.

Wir haben keine Drehbühne, sagt Bartholomäus, betont auch ein Bühnenarbeiter, aber man werde staunen, wie gut sie ohne ein solches technisches Instrument bei der Aufführung auskommen. Es wäre tatsächlich kaum aufgefallen. Man muss es verraten, Diskretion wäre Unfug: Angereist mit leicht pädagogischer Gönnerlaune – ach!, in der Provinz!, der Faust!, mit dem Intendanten!, in der Hauptrolle!, wird schon okay!, werden! –, zeigt sich die Inszenierung als sehr, sehr hübsche, für die dreieinhalb Stunden extrem kurzweilige Mixtur, als hätten sie Tarantino und Almodóvar in so abgründiger wie heiterer Stimmung angerührt.

Das Gretchen ist natürlich die arme Sau, Faust ein beherzter, leider auch seelenkäuflicher älterer Mann, Mephisto ein prima Bösling, die Marthe Schwerdtlein eine Kupplerin sondergleichen – und die anderen Gesellen von saufender, hurender, sehnender und jedenfalls nicht einschläfernder Vitalität. Verweile doch, du bist so schön, was des Pudels Kern ist – Faust, fast am Ende seines Lebens gelangweilt, sucht das Feuer und findet es, um sehenden Auges in ihm zu verbrennen.

An Weill geschult

Und dann viel Musik von Alfred Schnittke. Das hauseigene Orchester spielt auf, zum „Faust“ geht alles, vielleicht nicht Grönemeyer wie neulich am Berliner Ensemble, weil so frei von Ambivalenz – aber Tangos wie in Brüssel oder eben Schnittke, in den Dreißigern geboren, kompositorisch hörbar an Kurt Weill geschult: Das zimbelt und dröhnt und schmatzt und scheppert und schmiert, dass es wie zum Originalstück gehört.

Tim Bartholomäus sagt, dass sein Theater natürlich nicht nur den „Faust“ spielen könne – aber man habe sich den gönnen wollen. Mal was Großes, wie es sonst nur die fetten Bühnen tun. Das thüringische Kulturbürgertum zerriss sich gleichwohl das Maul darüber, ob Intendant Steffen Mensching, Bürgerrechtler in DDR-Zeiten, Schriftsteller und Clown von Beruf, 56 Jahre alt, nicht nur den Faust inszenieren sondern ihn spielen dürfe – kann so einer denn dem Gretchen ein Verführer sein?

Er kann, das sieht man gleich. So viel Hingabe an die Möglichkeit der neuen Liebe ist, Mensching zeigt es, doch nicht an die Jahre nach der Pubertät gebunden. Was auch immer die Feuilletons des Bundeslandes schrieben: Die Vorstellungen sind fast ausverkauft, Restkarten rar, das Rudolstädter Publikum weiß seine Abonnements auf dieses Theater akkurat zu nutzen. Es freut sich, so sieht man es in der Pause. Freundliche, interessierte Kommentare hört man, das Theatergeschehen ist ihnen nicht egal, und der „Faust“ offenbar kein Event unter vielen. Nein, offenbar wird es als eine kleine Burg im eher schleppenden Alltag gesehen. Wir verstehen uns als Aufklärer, sagt der Pressemann. Wir machen ein Angebot, das durch das Fernsehen oder eine Videothek nicht ersetzt werden kann.

Insofern macht es nicht allein Sinn, dass ein Stück wie der „Faust“, für ein Ensemble wie das Rudolstädter das unwahrscheinlichste von allen, weil es eben so berühmt ist und als schwierig gilt, eine Ausnahme ist. Das Haus schätzt die schweren Brocken, aber das Publikum bekommt auch heimatliche Delikatessen serviert, etwa im Kleinen Haus – ja, das gibt es auch, mit Tischchen, an denen Getränke gereicht werden! –, und wo regelmäßig eine rudolstädtische Variante des TV-Quiz „Was bin ich?“ gegeben wird. Gäste sind Menschen, die man nicht kennt und deren Berufe die Besucher raten sollen – gern auch von Prominenten mit viel gelebtem Leben in der DDR.

Aktionen für Flüchtlinge

Aber das eine begründet nicht das andere, die ernste Kultur nicht das Format leichter Unterhaltung: Alles gehöre zusammen, heißt es im Theater, die Besucher, die für 90-prozentzige Platzausnutzung sorgen, wollen dieses Potpourri aus allen Gemütsmöglichkeiten. Aber Zeichen ewiger Kämpfe ist das auch, denn, anders als neulich in Rostock, wo ein Intendant gefeuert wurde, weil er in schroffen Worten sich dagegen verwahrte, dass sein Volkstheater finanziell kastriert wird, anders als im hohen Norden streiten die Rudolstädter in Erfurt, der Landeshauptstadt, auch um Budgets.

Man wollte sich nicht zusammenlegen lassen mit Bühnen anderer Städte, so wie Meiningen mit Eisenach – in Rudolstadt kooperiert man freiwillig, per Tausch der Aufführungen mit den Kollegen aus Nordhausen. Aber: Das antichambrierende Gespräch in Erfurt, wo die Tröge mit dem Geld zur kulturellen Verteilung gefüllt werden, zählt zur Arbeitsplatzbeschreibung eines jeden Intendanten. Das Pfund, das dort in die Waagschale geworfen wird, ist schwer: Die ganze Stadt steht hinter dem Theater, auch bei seinen Aktionen für Flüchtlinge etwa: Deutschunterricht, Spendensammelaktionen, kostenlose Theaterbesuche für diese.

So ist also die Sache der Wasserstände der Saale und ob diese, befreien sich Ströme und Bäche vom Eise, so hoch steigen, dass die Keller des außenanstrichbedürftigen Theaters geflutet werden, die eine Gefahr. Eine, der man sich wehren kann. Die echte Gefahr, die dauernde Furcht ist mehr, ob in den Kulturbürokratien des Bundeslandes das Bewusstsein wach bleibt, dass eine kleine Stadt wie Rudolstadt – gut 20.000 Einwohner, etwa so viele, wie in zehn Straßen von Berlins Neukölln zusammen leben – einen Leuchtturm der kulturellen Verständigung behält. Die Signale der rot-rot-grünen Landesregierung können als Gewogenheit gedeutet werden, die Kassenlage ist überall bitter. Inszenierungen wie der „Faust“ sind auch freche Behauptungsgesten: Seht her, das können wir, und denkt ja nicht darüber nach, mit uns zu geizen! 158 Festangestellte hat das Theater, vom Schauspiel bis zu den Werkstätten – ein mächtiger Arbeitsplatzfaktor.

Die Stimme der Vernunft

Es wäre ja nicht nur eine Verkarstung der kulturellen Topographie einer finanziell nun wirklich nicht überreichlich bedienten Landschaft. Womit nichts gegen das moderne, innen von Popcornschwaden durchzogenen Cineplexkino einzuwenden ist. Und, es soll nicht verschwiegen sein, nach 23 Uhr, wenn also beim „Faust“ gerade der kaum enden wollende Applaus gespendet wird, ist in Rudolstadt jede Restaurantküche kalt. Fritten mit Dips in der Bar des Kinos – okay.

Tim Bartholomäus, in Weimar geboren und aufgewachsen, weist noch darauf hin, dass sein Theater sich auch als Haus versteht, das engagiert für Flüchtlinge eintritt, für Menschen, die eben in Thüringen angelandet sind. Dass die Stimme der Vernunft, des Willkommens ohne diese Kulturinstitution irgendwie verenden würde. Klar, eine Weltverbesserungsanstalt ist so ein Theater ja nicht, so wollte es sich wohl einst begreifen, aber es spielt für ein Publikum, das Ansprüche hat, gute. Und die politischen Geltungen, für die ein solches Ensemble mit einstehen will, mögen in Berlin, Hamburg, München, Frankfurt oder Köln, auch wohlfeil sein – in Rudolstadt werden sie von den Theaterleuten fast inbrünstig in die öffentliche Arena getragen.

Es dauert recht lange, Tags darauf, mit dem Zug, ehe der Thüringer Wald, die angehügelte Landschaft, das Liebliche zurück bleibt. „Faust“ endet im Übrigen nicht klassisch mit einer Versöhnung. Aus dem Himmel wird nicht über das Schicksal des geschundenen Gretchen gerufen: „Ist gerettet!“ Sondern, sehr irritierend, aber naheliegend für die Zeit Goethes: „Ist gerichtet.“ Ein Urteil, das man am Theater Rudolstadt auf keinen Fall hören möchte.

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