Verlust in digitalen Zeiten: Alles da, nur gerade nicht für dich

Wer ein digitales Buch einbüßt, lädt es wieder herunter. Kann unter diesen Umständen überhaupt noch etwas abhandenkommen?

Manchmal sucht man seine Brille und wünscht sich dafür eine Suchmaske. Bild: dpa

Die Sache mit den „Satanischen Versen“ hatte ich fast vergessen, als der ICE-Sitz auch mein Kindle schluckte. Es war um einen dieser Feiertage herum, an denen man gewöhnlich seine Eltern besucht. Ich setzte mich in den Zug nach Berlin, klappte mein Notebook auf und wunderte mich, warum mein Sitznachbar die ganze Zeit herüberstarrte.

Es stellte sich heraus, dass wir vor zehn Jahren zusammen studiert hatten. Und dass das auch der Grund war, warum er mich so überaus freundlich anlächelte. Ich hatte zunächst eine Freundlichkeitsstörung befürchtet.

Als der Berliner Hauptbahnhof noch eine halbe Stunde entfernt war, rutschte der ehemalige Kommilitone so angestrengt in seinem Sitz herum, dass mir nichts anderes übrig blieb, als meinen Computer zusammenzuklappen und ihn aufstehen zu lassen.

Erst draußen fiel mir auf, dass mein Kindle, in dem ich gelesen hatte, weder in meiner Jackentasche noch in meiner Laptoptasche steckte. Nirgends.

Die Ostergeschichte ging in der Kurzfassung so: Jesus war plötzlich weg, das Grab leer. Dann tauchte er wieder auf. Wir erzählen deshalb zu Ostern Geschichten vom Verschwinden und Auftauchen in der taz.am wochenende vom 4./5. April 2015. Außerdem: Auch sie war mal weg, trat als Ministerin zurück und kam wieder. Ihre Partei, die FDP, ging unter, sie macht weiter: Ein Interview mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Und: Micha Brumlik bespricht Heideggers Aufzeichnungen aus den Jahren 1942 bis 1948. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Ich stellte einen Nachforschungsantrag

Wie damals, als der ICE-Sitz die „Satanischen Verse“ schluckte. Ich war nach einer Kanada-Reise auf der Rückfahrt vom Flughafen. Beim Verlassen eines Zuges kontrolliere ich die Sitze jedes Mal sehr penibel. Ich hatte in beiden Fällen eine vage Erinnerung, dass ich das Buch, all die digitalen Bücher, in das Netz des Vordersitzes geschoben hatte. Womöglich.

Ich gab eine Verlustmeldung auf und stellte einen Nachforschungsantrag bei der Deutschen Bahn. Beschreibung des Verlustgegenstands. Beschreibung des Verlustereignisses. Ich bekam eine siebenstellige Verlustnummer.

Das Kindle war weg, alle Bücher sind noch da. Ich musste nur ein neues Gerät kaufen und sämtliche Romane und Sachbücher vom Amazon-Server wieder herunterladen. Es hat nur wenige Minuten gedauert. Die „Satanischen Verse“ hätte ich damals ganz neu bestellen müssen.

Gelobt sei die digitale Welt. Im Grunde kann uns nichts mehr verloren gehen, dachte ich.

Im Kopf ploppt eine Suchmaske auf

Wie tief der Glaube in mir sitzt, heute sei alles wiederauffindbar, merke ich, wenn ich einen Schlüssel verlegt habe und in meinem Kopf eine Suchmaske aufploppt, während ich durch die Wohnung renne. Meine Finger wollen etwas hineintippen, ich spüre es.

Doch in Wirklichkeit verschwindet alles. Immer noch. Bücher etwa, ich will sie lesen, speichere sie in den langen Listen meines Kindle, vergesse sie. Ich sehe sie nicht im Regal und so sind sie zwar da, aber für mich verloren. Ich sitze vor meiner iTunes-Bibliothek und will dieses eine Lied hören, von dem mir der Name nicht einfällt. Nicht die Interpretin. Gar nichts. Die Suchmaske wird zum leeren Schlitz, ein Spiegel der Leerstelle im Hirn. Es ist da, nur nicht für dich, nicht jetzt. Aber wenigstens theoretisch, dachte ich, findet sich alles wieder.

Einige Wochen später gab ich einer Kollegin einen USB-Stick mit Bildern und Videos. Wichtig. Kurz darauf ein Anruf: Stick gelöscht. Wir wissen nicht, warum.

Die Rekonstruktion dauerte zwei Tage. Was verschwunden ist, kann ich nicht genau sagen.

Die Ostergeschichte ist einfach erzählt: Plötzlich war Jesus weg. Um dann wieder aufzutauchen. In der taz.am wochenende vom 4./5./6. April 2015 erzählen wir deshalb zehn Geschichten vom Verschwinden und Wiederauftauchen. Texte von Sibylle Berg, Andy Borg, Hermes Phettberg, Elisabeth Rank, Annabelle Seubert, Waltraud Schwab, Steffi Unsleber, Martin Reichert - und von einem Leser.

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