Nachttalker Domian hört auf: Abschied in den Morgen

Er hörte zu, wenn andere schon schliefen. Nach 20 Jahren und rund 20.000 Live-Gesprächen lässt er seine Sendung ruhen.

Seelenfreund für viele Schlaflose: Jürgen Domian. Bild: dpa

BERLIN taz | Da war //:Frisörlehrling Ronny, der regelmäßig die Haare seiner Kunden mit nach Hause nimmt, sie in die Badewanne schüttet, warmes Wasser darüber laufen lässt – und dann darin badet. Oder Arnold, der versehentlich seine Frau erschossen hat, statt den Mann, mit dem er sie gerade in flagranti erwischt hatte. //:Es gab Sebastian, der Neonazi ist, gewalttätig, kriminell und eigentlich aus der Szene aussteigen will. Und dann natürlich – unvergessen – : Edwin, der einmal im Monat 60 Kilo Hack kauft, es im Wohnzimmer zu einer Frau formt – und sich damit vergnügt.

Geschichten, so skurril, dass man sie kaum glauben mag. Doch die Protagonisten, die sie erzählen, wurden sorgfältig ausgewählt, geprüft, so gut es eben am Telefon geht, bevor sie live in die Talk-Sendung von Jürgen Domian gestellt werden. Seit 1995 läuft „Domian“ Dienstag bis Samstag von 1 Uhr bis 2 Uhr nachts. Übertragen im WDR-Fernsehen und beim Radiosender 1Live. Nach 20 Jahren und rund 20.000 Live-Gesprächen hört der 57-jährige Moderator Ende 2016 auf, wie der WDR Montagabend bestätigte.

Die krassen Geschichten, die hängen bleiben, die Highlights, sind oft sehr tragische. Die Regel sind sie nicht. Oft erzählen die Anrufer Domian von Beziehungsproblemen, von Schicksalsschlägen, Tod, Unfällen oder Verbrechen. Und wenn man sich gerade von einer tief traumatisierten Anruferin, die ihr Kind verloren hat, erholt hat, über ihre Geschichte nachdenkt, es dann ca. 1.45 Uhr nachts ist, wird der nächste Anrufer live ins Studio gestellt und erzählt, was er vom Sieg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest hält.

Das macht den Reiz der Sendung aus. Trauer und Freude, Relevantes und Belangloses, Ernstes und Lustiges. Stets im Wechsel. Domian redet mit jedem. Mit Tätern, mit Opfern, mit Nazis und Pädophilen. Was den Zuhörer erwartet? Immer ungewiss. Auch Domian selbst muss sich bei jedem Anrufer auf das Schlimmste – oder auf das Schönste – einstellen.

Domian, der Freund in der Nacht

200.000 Menschen schalten Nacht für Nacht ein, dazu unzählige Radiozuhörer. Menschen, die an der Vielfalt des Lebens interessiert sind, oder einfach Zerstreuung suchen. Solche, die nicht schlafen können – oder nicht schlafen wollen. Für sie ist Domian ein Freund, manchmal vielleicht der einzige.

Und viele wollen nicht nur zuhören, sondern auch mit ihm reden. Rund 30.000 rufen jeden Nacht an, ca. 150 kommen durch, dürfen den Redakteuren ihre Geschichte erzählen. Die meisten werden aussortiert. Zu labil, auf Drogen, unglaubwürdig, langweilig oder schlicht verrückt. Pro Sendung redet Domian dann mit sechs bis sieben Anrufern.

Domian macht Anti-Fernsehen. Doch seine Sendung ist überaus erfolgreich, die Quote ist seit Jahren stabil. Schlichtes Studio, bis auf einen weißen Elch kaum Deko, ein Talkmaster, ein Bildschirm, ein Mikrofon. Und dennoch funktioniert es. Spötter mögen sagen, es ist das letzte Überbleibsel des 90er-Jahre-TV-Talkshow-Wahns. Schicksale, Schicksale, Schicksale. Doch Domian behandelt seine Anrufer immer mit Respekt. Geht behutsam mit ihnen um, hört geduldig zu. Nie gibt er ihnen das Gefühl, ihr Anliegen, ihren Kummer, ihre Meinung nicht ernst zu nehmen. Jeder ist gleich viel wert.

Nur manchmal schimpft er mit denen, die es nicht anders verdient haben. Wird laut, wenn ein Täter nichts bereut. Redet ihnen ins Gewissen, sagt seine Meinung. Und wenn jemand partout nicht aufhört zu reden? Dann wendet Domian seine Tricks an. Wünscht beiläufig „viel Kraft“, versucht ein Fazit zu ziehen. Er rät gerne zu konkreten Entscheidungen. Wirklich vor den Kopf stoßen muss er die Anrufer selten.

Morgensonne sei ihm gegönnt

Immer wieder wurde ihm vorgeworfen, ohne psychologische Ausbildung Menschen in Notsituationen beraten zu wollen. Mit Anrufern zu sprechen, die tatsächlich Hilfe brauchen, mehr als nur das offene Ohr eines Quasi-Freundes, eines Laienpsychologen. Er streitet die Kritik ab. Als Privatperson rede er mit den Anrufern, nicht als Experte. Bewusst hat er keine psychologische Fortbildung gemacht, er würde sonst anders an die Gespräche herangehen.

Und für die Notfälle gibt es im Hintergrund noch den echten Psychologen. Immer wieder bietet er Anrufern, die von Schicksalsschlägen getroffen und traumatisiert sind, an, nach dem Gespräch von einem Psychologen zurückgerufen zu werden. Nur selten lehnen sie dies ab.

Für den WDR ist der Rückzug von Domian ein Verlust. Erst vor wenigen Wochen war bekannt geworden, dass Götz Alsmann und Christine Westermann nach knapp 20 Jahren mit „Zimmer frei“ aufhören. Sie fühlten sich zu alt für den ewigen Kindergeburtstag.

Domian hat viel ertragen seit 1995. „20 Jahre Nachtschicht sind nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Ich habe Lust, mal wieder häufiger die Morgensonne zu sehen“, erklärte er zum Aus seiner Sendung. Es sei ihm gegönnt.

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