Schlagloch Sicherheit: Freiheit und Handschellen

Die Hysterie nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ war unerträglich. Der Terror in Nordnigeria bleibt dagegen ohne Folgen.

„Die größte Gefahr für die freie Meinungsäußerung ist die Regierung, nicht der Terrorismus“, lautete die Überschrift eines Artikels in der „Washington Post“ Bild: Imago/Westend61

Auf den Schock über die Anschläge in Paris folgte der Schock über die öffentlichen und privaten Debatten. Selbst ansonsten vernünftige Menschen reagierten mit Äußerungen, die unter der Last ihrer Panik torkelten. Die Wiener Tageszeitung Der Standard betitelte ihren Kommentar „Freiheit braucht Sicherheit“, ohne diese Losung in ihrer perfiden Logik durchzudeklinieren: Freiheit braucht Belauschung, Freiheit braucht Handschellen.

Mit anderen Worten: Wir brauchen keine Freiheit. Keine Überraschung, dass Politiker, Experten und Law-and-Order-Befürworter die Morde instrumentalisierten, um ihre schon oftmals diskreditierten Behauptungen zu dringlichen Forderungen zu schmieden. Die Vorratsdatenspeicherung wurde von den Toten wiederauferweckt, ungeachtet dessen, dass sie sowohl vom Bundesverfassungsgericht als auch vom Europäischen Gerichtshof abgeschmettert wurde, so als hätten die Morde in Paris die Gerichte überstimmt.

Der Rechtsstaat soll gewährleistet werden, indem er ausgehöhlt wird, gemäß dem seit Jahren befolgten Prinzip, die Freiheit durch die Einschränkung der Freiheit zu verteidigen. In einigen Ländern wurde Aufrüstung des Sicherheitsapparats im Eilverfahren beschlossen, unabhängig davon, ob die Maßnahmen ihren behaupteten Zweck überhaupt erfüllen können. Ganze Gesellschaften gossen sich einen potenten Cocktail aus Angst, Blindheit und Aktionismus hinter die Binde.

Dabei sollte die erste Bürgerpflicht in Zeiten wie diesen das Nachdenken sein. Zorn, Trauer und Schmerz entledigen uns nicht der Verantwortung, möglichst nüchtern zu analysieren, Gründe auszuloten, nachhaltige, gerechte Lösungen zu suchen. Fakten sind wichtiger als Gesten, wenn man nicht möchte – wie geschehen –, dass Heuchelei auf dem Trauma aufsattelt. Auch eine ritualisierte Trauergestik bedarf blasphemischer Einwürfe. Das wäre ein Zeichen jener Stärke, jenes Muts, der allenthalben eingefordert wird. Die Militarisierung, die intensivierte Durchherrschung unserer Gesellschaften hingegen ist eine feige Reaktion, ebenso wie das Anwachsen von Islamophobie und Rassismus.

Blindes Vertrauen

Wie kann man etwa hierzulande nach den ausgiebig dokumentierten Erkenntnissen des NSU-Untersuchungsausschusses blind darauf vertrauen, dass die im Geheimen operierenden Sicherheitsbehörden unser aller Menschen- und Bürgerrechte schützen werden?

Darf man sich das Recht herausnehmen, trotz der Verbrechen von Paris, die Zeitschrift Charlie Hebdo, die sich von ihren anarchistischen Wurzeln schon weit entfernt hatte, zu kritisieren? Nicht wegen der antireligiösen Haltung, sondern wegen der intellektuell dürftigen plakativen Provokation, die oft gerade das nicht leistete, was Satire in gelungenen Fällen vermag: die Herrschenden, die Selbstgerechten zu entlarven. Sich über die Schwächsten in einer Gesellschaft lustig zu machen, nur weil sie einem vermeintlichen archaischen Glauben anhingen, ist billig und unwürdig.

Wie kann man so tun, als sei Terrorismus der größte Feind der freien Meinungsäußerung, da sie doch vor allem von ökonomischen Zwängen (Charlie Hebdo war de facto pleite, die Überlebenskämpfe der freien Printmedien sind Leserinnen und Lesern dieser Zeitung bestens bekannt) sowie von staatlicher Repression bedroht ist?

Ein bemerkenswerter Artikel in der Washington Post war betitelt: „Die größte Gefahr für die freie Meinungsäußerung ist die Regierung, nicht der Terrorismus.“ Der Autor Jonathan Turley schildert darin eine Reihe von Fällen der Zensur unter Zuhilfenahme von Antidiffamierungsgesetzen. Die Verhaftung des Komikers Dieudonné M’Bala M’Bala wenige Tage später wegen seines Ausspruches „Je suis Charli Coulibaly“ war Beleg für diese Behauptung. Mörder können Journalisten umbringen, der Staat allein kann ein Recht zu Grabe tragen.

Selektive Einfühlung

Müssen wir unsere Empathie nicht hinterfragen, wenn sie als intimes Gefühl politisch enggeführt und ausgebeutet wird? Irritation, Misstrauen, letztlich Feindseligkeit entstehen aufgrund einer vermeintlich selektiven Empathie, die das Prinzip universeller Rechte infrage stellt. Ich werde nie vergessen, wie ich mit einigen Ulema, islamischen Rechtsgelehrten, zufällig an jenem Tag in Bombay zusammensaß, als der Angriffskrieg gegen den Irak begann, live übertragen von CNN.

Ich werde nie vergessen, wie einer der jungen Männer angesichts der schrecklich abstrakten Bilder, die der Fantasie viel Raum ließen, ausrief: „Wieso tun sie uns das an?“ Und ein anderer zu weinen begann. Viele Stimmen haben in den letzten Wochen Zeichen der Anteilnahme und der Solidarität von muslimischen Organisationen und Respektspersonen gefordert. Das ist verständlich, ebenso verständlich ist die schwelende Frage im Herzen vieler Muslime: Wie viel Anteilnahme und Solidarität habt ihr gezeigt, als grauenvolle Kriegsverbrechen in Falludscha oder in Gaza begangen wurden?

Man mag ein solches Gegenüberstellen von Opfern verwerflich finden, aber man sollte sich nicht darüber täuschen, dass es die Wahrnehmung in den ehemals kolonialisierten Gesellschaften (nicht nur in den islamischen) dominiert, wo genau darauf geachtet wird, wie die moralische Schere immer wieder auseinandergeht.

Der genozidale Angriff von Boko Haram auf das Dorf Baga, dem wohl zweitausend schutzlose Menschen zum Opfer fielen (überwiegend Frauen, Kinder und Alte), wurde medial viel weniger wahrgenommen, von massenhaften Solidaritätskundgebungen ganz zu schweigen. Der Terror in Nordnigeria, wo die Bevölkerung zwischen obskurantistischen, blutrünstigen Fanatikern und einer korrupten, brutalen Armee zerrieben wird, ist für uns unvorstellbar, also bleibt er ohne Folgen. Angesichts der inszenierten Trauerarbeit im freien Westen kann ich durchaus verstehen, dass ein afrikanischer Kollege ausrief: „Je ne suis pas Charlot.“

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