Sophia Hoffmann über humanitäre Hilfe: „Das Wissen über die Lager ist gering“

Die Politologin Sophia Hoffmann reist in ein jordanisches Flüchtlingslager, um zu erfahren, wie die Zustände vor Ort wirklich sind.

Besucht ein jordanisches Flüchtlingslager: die Politologin Sophia Hoffmann. Bild: Julia Baier

taz: Frau Hoffmann, Sie gehen im kommenden Jahr auf Feldforschung nach Jordanien ins Flüchtlingslager. Trauen Sie den Berichten der anderen über die Zustände nicht?

Sophia Hoffmann: Mein Forschungsanspruch ist, dass man die Dinge beobachten muss, wie sie sich auf den Alltag der Menschen auswirken. Deshalb möchte ich mir jetzt anschauen, welchen Effekt die Sicherheitsmaßnahmen haben, die humanitäre Organisationen inzwischen systematisch in ihre Arbeit einbauen.

Welche Maßnahmen sind das?

Jede größere humanitäre Organisation hat heute Sicherheitsmanager und einen Sicherheitsplan. Dieser sieht etwa vor, dass die humanitären Helfer regelmäßig an Simulationen teilnehmen. Das sind Trainingskurse, die wiederum von spezialisierten Firmen angeboten werden und in denen man übt, was zu tun ist, wenn zum Beispiel einer der Kollegen gekidnappt wird.

Wie oft passieren solche Vorfälle?

Die Zahl der humanitären Helfer und Helferinnen, die bei ihrer Arbeit verletzt oder getötet wurden ist in den letzten zehn Jahren stark angestiegen – 2003 waren es insgesamt etwa 140, in 2013 fast 500. Allerdings ist auch die Zahl der Menschen, die in diesem Sektor arbeiten, stark gestiegen. Verändert hat sich auch, dass bestimmte Organisationen, die vorher wegen ihrer Neutralität als quasi unantastbar galten, angegriffen wurden, wie das Internationale Rote Kreuz in Baghdad im Jahr 2003 und in Afghanistan im Jahr 2013.

Wenn es Ihnen vor allem um die Sicherheit geht, ist damit also überhaupt nicht die der Flüchtlinge, sondern die ihrer Helfer gemeint?

In der Tat möchte ich die Maßnahmen untersuchen, die Organisationen benutzten, um ihre Mitarbeiter zu schützen. Der Forschungsgegenstand ist also die Frage, wie schützen humanitäre Helfer sich und ihre Projekte. Dabei handelt es sich immer um ein Paradox: Denn eigentlich sollte es in den Flüchtlingslagern ja in erster Linie um die Sicherheit der Flüchtlinge gehen.

35, ist gebürtige Oldenburgerin und studierte in England. In Damaskus lernte sie Arabisch und arbeitete dort als freiberufliche Journalistin. Bereits in ihrer Dissertation an der School of Oriental and African Studies der University of London beschäftigte sie sich mit der Situation irakischer Flüchtlinge. Jetzt wurde sie für zwei Jahre an die Universität Bremen eingeladen, um die Sicherheit in Flüchtlingslagern an der Grenze zu Syrien zu untersuchen.

Wie kommt es zu dieser Verschiebung?

Im Nahen Osten und vor allem im Irak und Afghanistan werden die humanitären Helfer immer häufiger angegriffen. Daraus hat sich ein neues Bedrohungsszenario entwickelt: Die humanitären Helfer, die eigentlich nur die Opfer beschützen sollen, müssen sich zusehends um ihre eigene Sicherheit kümmern.

Wie wirkt sich diese Angst in den Lagern aus?

Das bekannteste Flüchtlingslager in Zaatari wurde 2012 ganz schnell hochgezogen und ist das erste, das vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, gemanagt wird. In Zaatari herrschten von Anfang an relativ chaotische Verhältnisse, zumindest aus der Perspektive der humanitären Organisationen, die das Lager nicht kontrollieren konnten.

Was heißt das konkret?

Es wurde gesagt und in den Medien berichtet, dass Flüchtlinge die Container, in denen sie untergebracht wurden, hin und hergeschoben haben, wie sie wollten. Sachen sollen geklaut worden sein und es soll sich eine eigene Lagerwirtschaft herausgebildet haben. Das Wissen der humanitären Helfer im Lager über die genauen Umstände ist aber relativ gering, weil sie es einfach nicht geschafft haben, geeignete Kontrollstrukturen aufzubauen. Das Camp wurde in humanitären Kreisen jedenfalls immer als bedrohlich dargestellt. Ob das stimmt, weiß ich nicht – und das ist auch der Grund, warum ich da hinfahren will.

Was genau heißt eigentlich „bedrohlich“?

Das ist eben die Frage. Für wen ist es bedrohlich, wenn die Flüchtlinge selber Stromleitungen verlegen und sich eigene, für die humanitären Organisationen undurchschaubare Sicherheitsstrukturen aufbauen? Das UNHCR berichtet von mafiösen Strukturen im Lager, doch vielleicht bieten diese auch gewisse Dienstleistungen und Schutz. Denn in Zaatari hat es auch regelmäßig gewaltsame Demos und Unruhen gegeben, die von den internationalen Helfern nicht unterbunden werden konnten. Auch die Sicherheit von Frauen und Kindern war bedroht. Das alles ist aber nicht untersucht worden. Als Antwort darauf ist jetzt ein neues Camp gebaut worden, in dem 10.000 Menschen leben…

im Vergleich dazu leben im Zaatari-Lager seit zweieinhalb Jahren rund 79.000 aus dem syrischen Bürgerkrieg Geflüchtete…

Im neuen Camp gibt es keine Container mehr, die man hin- und herbewegen könnte, sondern neuartige Unterkünfte, die am Boden fixiert sind. Es gibt Supermärkte, um die undurchsichtige Lagerstrukturen zu verhindern. Außerdem gibt es ein Bevölkerungsmanagement-System, das die Leute registriert…

Dürfen die Geflüchteten sich dort frei bewegen?

Zu Fuß kann man sich frei bewegen, das Verlassen des Lagers ist möglich, aber ziemlich schwierig und erfordert bestimmte Ressourcen. Das neue Lager präsentiert eine verbesserte Logik von „Care and Control“: Die Flüchtlinge werden besser versorgt, aber auch besser kontrolliert. Eigenständige Initiative und unerwünschtes Verhalten sollen so verhindert werden. Der Grund für diese ganzen Veränderungen ist jedenfalls ein bestimmtes Sicherheitsdenken – Sicherheit für die Flüchtlinge, aber auch Kontrolle, so dass von ihnen keine Gefahr ausgehen kann.

In der Ethnologie begibt sich der Forschende meist für längere Zeit in die zu erforschende Umgebung. Ziehen Sie ins Lager?

Nein. Schon wegen meiner familiären Situation – ich habe ein zweijähriges Kind – kann ich nicht wirklich lange weg bleiben. Wir werden als Familie für zwei Monate nach Amman ziehen und ich werde von dort in eines der Lager fahren. Ich benutze diese Methode also in verkürzter Form, um bestimmte Daten zu erheben. Im Idealfall schließe ich mich einer Person vom UNHCR, das ist das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, an. Das UNHCR wird mir auf jeden Fall das Okay geben müssen, dass ich dort mitgehen kann. Vielleicht verharre ich auch einfach an einem Ort im Lager und schaue, was passiert da eigentlich. Ich werde jedenfalls nicht im Lager übernachten.

Mit welchem Ziel wollen Sie die humanitären Helfer und die Sicherheitsmanager von NGOs befragen?

Bei den Interviews geht es vor allem darum, die Planungsphase zu begreifen. Die Sicherheitsmanager befinden sich meistens in den Hauptquartieren der NGOs. Sie sind also eher Politiker oder Bürokraten und nicht unbedingt im Feld. Aber sie können sehr wohl erzählen, was bei ihrer Arbeit für sie wichtig ist und mit welcher Brille sie auf den Nahen Osten gucken.

Haben Sie da schon eine Vermutung, was das für eine Brille sein könnte?

Das kann man jedenfalls nicht nur dadurch herausbekommen, dass man Sicherheitspläne studiert oder Interviews führt. Wenn man im Lager mit einem Helfer mitgeht, also eine teilnehmende Beobachtung macht, ergibt sich aber automatisch ein informeller Kontakt und viel mehr Einsicht, wie Sicherheit tatsächlich praktiziert wird.

Sie sagen, es braucht mehr empirisches Wissen darüber, was in Lagern passiert. Was genau fehlt Ihnen denn?

Es gibt einen großen Bereich der Flüchtlingsforschung, aber im Nahen Osten ist dieser humanitäre Sektor, den man aus Afrika und Teilen von Asien kennt, einfach noch ganz neu. Seine Entstehung ging erst mit der irakischen Flüchtlingskrise 2007 los. Damals hatte das UNHCR-Büro in Syrien ein Budget von unter zwei Millionen Euro.

Was hat sich geändert?

Der regionale Topf für Jordanien, Syrien, Libanon, Irak und Türkei ist auf über drei bis vier Milliarden angewachsen. Bislang gibt es erst zwei Lager, die vom UNHCR gemanagt werden. Das heißt aber auch: Es gibt noch recht wenig detailreiche und gut beobachtete Forschung in diesen Lagern, die ja auch im Sinne einer bestimmten Flüchtlingspolitik gemanagt werden – nämlich der, die das UNHCR vertritt.

Welche Politik ist das?

Kurz gesagt basiert das UNHCR auf dem internationalen Flüchtlingsrecht der Genfer Konvention. Was da als niet und nagelfest angesehen wird, ist, dass jeder Mensch eine nationale Heimat hat, an die er gebunden ist. Auch deshalb, weil nur die eigene Regierung verpflichtet ist, einem Schutz zu gewähren. Genau da setzt das Flüchtlingsrecht an – bei dem angeblichen Ausnahmezustand, dass die eigene Regierung einem keinen Schutz gewährt und man Flüchtling werden muss – denn tatsächlich gibt es auf der Welt viele Regierungen, die ihre Bürger nicht schützen.

Welche rechtlichen Folgen hat dieser Ausnahmezustand für die Betroffenen?

Das heißt, dass für das UNHCR Menschen, die nicht in ihrem Heimatland sind, also geflüchtet sind, immer in einem Ausnahmezustand sind. Die Regierung der Zufluchtsländer sind nie richtig für sie verantwortlich. Es gibt aber nicht-westliche Regierungen, die eigentlich viel liberaler und toleranter mit Migranten umgehen, als es dieser strenge UNHCR-Gedanke vorsieht.

Ein Beispiel?

Bei den Irakern in Syrien war es so, dass sie offiziell einen Stempel im Pass hatten, der attestierte, dass sie hier nicht arbeiten können. Tatsächlich haben sie aber überall gearbeitet. Ein Iraker, der nicht den Präsidenten kritisierte, sich mit den Mächtigen gut stellte, dem konnte es sogar besser gehen, als einem Syrer. Das Tragische ist, wenn das UNHCR in diese Länder kommt, bringt es auch die eigenen, sehr restriktive Annahme über Flüchtlingspolitik mit, und diese können sich auf die lokale Politik übertragen. Dann wird der Pass auf einmal wichtig.

Welche Rolle kann die Politikwissenschaft als eine Disziplin, die sehr stark auf nationalstaatlichem Denken basiert, für die Flüchtlingspolitik spielen?

Sie kann beleuchten, dass Flüchtlingspolitik immer wieder neu erfunden und gemacht wird – und dass es auf der Welt ganz unterschiedliche Arten und Weisen gibt, mit Flüchtlingen umzugehen.

Was ist dadurch gewonnen?

Ich glaube, die Aufgabe ist es, auf Alternativen hinzuweisen, wie in anderen Ländern oder auch zu anderen Zeiten mit Flucht umgegangen wurde. Dass das Phänomen Flucht differenzierter begriffen wird. Was das bedeutet, kann man schon im Nahen Osten ganz gut sehen.

Inwiefern?

Die Staaten dort haben im 19. und 20. Jahrhundert Hunderttausende von Flüchtlingen – aus der Türkei, aus Armenien, aus Palästina, aus der ehemaligen Sowjetunion – aufgenommen und ganz unterschiedliche, oft – aber nicht immer – erfolgreiche Strategien gehabt, mit diesen umzugehen.

Im Libanon etwa leben Flüchtlinge, anders als in anderen Aufnahmeländern, eigentlich nicht in Lagern, sondern meist verstreut in den Städten und auf dem Land. Zentral organisierte Camps wie Zaatari in Jordanien haben dort den Ruf, dauerhafte Flüchtlingsslums zu etablieren.

Weltweit leben bereits etwa fünf Millionen Menschen dauerhaft in Flüchtlingslagern, die vom UNHCR verwaltet werden. Das ist ein weiterer Grund, sich mit der Situation in solchen Lager zu beschäftigen: Wie sieht humanitäres Regieren aus? Offiziell vertritt auch das UNHCR die Position, dass es immer besser ist, wenn Flüchtlinge nicht in Lager gesteckt werden, sondern sich Unterkünfte mieten und versuchen können, ihr Leben so normal wie möglich weiterzuleben. Das tun auch die meisten syrischen Flüchtlinge, nur etwa 20 Prozent sind in Lagern.

Welche Folgen hat die massive Ausweitung der humanitären Hilfe für die Gesellschaft?

Zunächst ist die Folge, dass plötzlich neues Spezialwissen in Form von internationalen humanitären Profis auftaucht und mit ihm viele Ressourcen wie Arbeitsplätze, Aufträge für diverse Firmen und Geld. Wie diese Kombination aus Know-how und Material dann genau die Gesellschaft verändert, ist mir auch noch nicht klar – dieser Frage soll das aktuelle Projekt nachgehen.

Warum kommen Sie eigentlich ausgerechnet nach Bremen, wo Sie für Ihre Forschung das Marie-Curie-Stipendium erhielten?

Das ist insofern kein Zufall, als das Institut für Interkulturelle und Internationale Studien – das InIIS – an der Uni Bremen im deutschen Raum die spannendste Abteilung für internationale Beziehungen hat, weil dort sehr qualitativ geforscht wird. Das ist der Anspruch, Forschung nicht nur vom Bürostuhl aus zu betreiben, sondern sich wirklich die Verhältnisse anzugucken. Auch wird dort viel zu sehr aktuellen Themen geforscht.

Sie sind gebürtige Oldenburgerin, haben aber auch einige Jahre in Damaskus Arabisch gelernt, eigentlich mit der Absicht, journalistisch zu arbeiten. Was hat Sie in die Wissenschaft verschlagen?

Als Journalistin habe ich öfter größerer Recherche-Aufträge für längere Spezialberichte bekommen und mir irgendwann gedacht, daraus eine Promotion zu machen – und dabei hat mich dann das Forschungsfieber ergriffen.

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