25 Jahre als Jugendstrafrichter in Berlin: „Habe ich Zweifel, spreche ich frei“

Die Wahrheit finden: Kay-Thomas Dieckmann war ein Vierteljahrhundert lang Jugendstrafrichter. Jetzt erging sein letztes Urteil.

„Es ist nicht schön, jemanden ins Gefängnis zu schicken.“ - Kay-Thomas Dieckmann vor dem Justizpalast Berlin-Moabit. Bild: Stefan Boness

BERLIN taz | Erst vor einigen Monaten hat Kay-Thomas Dieckmann Theater gespielt. In „Please, continue (Hamlet)“ verhandelt der echte Richter Kay-Thomas Dieckmann in einem fiktiven Prozess gegen Hamlet, der Polonius, den Vater seiner Verlobten Ophelia, erstochen hat. Es gibt eine Ermittlungsakte, ein psychiatrisches Gutachten, Zeugen werden gehört, die Verteidigung – am Ende fällt Dieckmann ein Urteil: sechs Jahre für Hamlet.

Einen Abend später wird ein anderer Berliner Richter über denselben Fall entscheiden: Freispruch. Zwei Theaterregisseure sind diesen Sommer mit ihrem fiktiven Doku-Drama durch die Lande gezogen, um die Rechtsprechung zu prüfen. Auch Richter haben eine unterschiedliche Wahrnehmung, urteilen nach divergierenden Maßstäben. Wie findet ein Richter zu einem Urteil, wie nähert er sich der Wahrheit?

„Ich war verblüfft, dass mein Kollege ihn freigesprochen hat“, sagt Kay-Thomas Dieckmann. „Aber jede Verhandlung ist anders.“ Für ihn habe das Gutachten klar den Vorwurf „vorsätzliches Tötungsdelikt“ bestätigt. „Es war ein gutes Experiment, das zeigt, wie schwierig es ist, zu einem Urteil zu kommen.“ Finden vor Gericht nicht immer die Dramen des Lebens statt, gleicht nicht der Gerichtssaal einem Theater? „Das sollte es nicht“, antwortet Dieckmann, ohne zu zögern. „Der Gerichtssaal versucht einen hochemotionalen Vorgang zu versachlichen. Als Richter kämpfe ich dafür, dass die Ebene der sachlichen Aufklärung erhalten bleibt.“

Kay-Thomas Dieckmann, 64, ist Jugendrichter und Vorsitzender der 24. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin, einer von acht Jugendkammern in Berlin, die nun, da er Anfang 2015 in Pension geht, stillgelegt wird. Anders als das Jugendschöffengericht, wo ein Berufsrichter entscheidet, hat die Jugendstrafkammer drei Richter. Sie entscheidet über Berufungen und verhandelt über schwere Gewalttaten sowie Fälle sexuellen Missbrauchs – denn selbst wenn die Täter erwachsen sind, so sind doch die Opfer oft Kinder und Jugendliche. Etwa ein Drittel seiner Arbeit entfällt auf Missbrauchsfälle, sagt Dieckmann. „Ich versuche, die Emotionen nicht hochkochen zu lassen.“ Dennoch gehören diese Verfahren zu denen, die „mich am meisten belastet haben“. Er hat drei erwachsene Kinder.

Von Ladendiebstahl bios Mord

Dieckmann, 64, Berliner, geht gern zu Fuß von seiner Schöneberger Wohnung durch den Tiergarten ins Moabiter Gericht. „Ich mache meine Arbeit gern“, sagt er. „Die Arbeit eines Jugendrichters ist vielfältig – von Ladendiebstahl bis Mord ist alles dabei. Vor allem aber ist sie mit der Hoffnung verbunden, noch etwas zum Guten verändern zu können.“

Die letzten Monate seiner Arbeit in dem alten Gerichtsgebäude in Moabit, mit seinen labyrinthischen Gängen und dem wie eine Kathedrale wirkenden Treppenhaus, verliefen ruhig. Statt wie sonst an die 80 Verfahren hatte Dieckmann in diesem Jahr nur 29. Seit 1998 leitet er die Jugendkammer, Dienstag und Donnerstag ist Sitzungstag – stets im Saal 621, überwiegend Holz, etwas nachgedunkelt.

An einem Morgen im Oktober wird der Fall Mohammed K. verhandelt. Verdacht auf sexuellen Missbrauch zweier Nachbarjungen. „Nie sagt einer in solchen Fällen, ich war’s“, sagt Dieckmann. Es ist der Tag der Zeugenbefragung. Weil Mohammed K. die Tat bestreitet, sollen die Opfer – zwei Jungen im Alter von acht und neun Jahren – vernommen werden. Ein kleiner sozialer Kosmos tut sich auf – ohne Zuschauer, der Gerichtssaal bleibt wie so oft leer. Der Angeklagte, im Jogginganzug, ist ein in Deutschland lebender Libanese, unverheiratet, arbeitslos, ihm zur Seite ein Arabisch-Dolmetscher und sein Verteidiger.

Es ist wichtig, die Wahrheit zu sagen

Kay-Thomas Dieckmann stellt den Antrag, den Angeklagten von der Zeugenvernehmung auszuschließen, dem wird stattgegeben. Begründung: Der Zeuge habe erhebliche Angst auszusagen. Tom, der eigentlich anders heißt, ist neun, schwarz, die Familie stammt aus Nigeria, er ist mit seinem Vater gekommen.

Dieckmann zieht seine Robe aus und setzt sich neben den Jungen in die erste Reihe. Der Richter erklärt ihm, wer wer im Saal ist. Dort der Gutachter, da der Verteidiger, neben der Box, wo sonst der Angeklagte sitzt; oben die beisitzenden Richter, die Staatsanwältin. Er erklärt ihm, was ein Zeuge ist, dass er nicht schuld ist und dass es wichtig ist, die Wahrheit zu sagen.

Bei der Polizei und beim Psychologen hat der Junge bereits seine Version der Geschichte erzählt. Von der Playstation in der Wohnung des Angeklagten, vom sogenannten Wurstspiel, das er mit dem Angeklagten spielen sollte, von der Kapuze, die ihm der Angeklagte über den Kopf zog. Er spricht leise, zwischendurch kullern Tränen. Der Penis wird durch das Wort „Pipi“ umschrieben. War er „im Mund“ oder „am Mund“, will Dieckmann wissen. „Nahe der Lippen“, das hat er bei der Polizei anders ausgesagt. Ist es ihm peinlich? Hat er Angst? Der zweite Zeuge, ein Achtjähriger, der aus einer bulgarischen Familie kommt, sagt später dezidiert, „im Mund“. Aber es sei, antwortet er auf Nachfrage, „nichts Gelbes“ gekommen.

"Ich bin nicht naiv"

Dieckmann fragt behutsam, wiederholt langsam die Aussagen, lässt sich auf das kindliche Vokabular ein. Später wird der gutachtende Psychologe den Kindern Reifeverzögerung und ein „eingeschränktes Phantasievermögen“ attestieren. Ihre Glaubwürdigkeit steht außer Frage, auch wenn sich Tom einmal in einen Widerspruch verheddert hat. Der Angeklagte will sagen, „was er weiß“. Die „halbe Geschichte stimmt“. Die Kinder kamen gern zu ihm. Sie wüssten mehr schmutzige Sachen als er.

„Ich bin nicht naiv, ich weiß, dass man bei einer Hauptverhandlung immer nur bestimmte Aspekte geboten bekommt“, sagt Dieckmann im Gespräch. Im Fall Mohammed K. steht Aussage gegen Aussage. „Ein schwieriges Verfahren“, sagt der Richter später. Dass der Angeklagte das Urteil angenommen habe, sei für ihn überraschend gewesen. Im Vorfeld war es ihm nicht gelungen, ihn zu einem Schuldeingeständnis zu bewegen. „Im Schlusswort hatte ich das Gefühl, ich erreiche den Mann.“ Er legt ihm wegen seiner pädophilen Neigungen das Therapieangebot im Knast nahe. „Als religiöser Mensch müssen Sie das als Prüfung sehen. Und die besteht man nicht, indem man diese Neigung leugnet oder ignoriert.“

Mohammed K. bekommt drei Jahre, sechs Monate.

"Habe ich Zweifel, spreche ich frei"

„Es ist nicht schön, jemanden ins Gefängnis zu schicken.“ Hat er eine lange Haftstrafe verhängt, geht Dieckmann eher erschöpft und deprimiert nach Hause. „Auch wenn man richtig gehandelt hat.“ Und wie kann man sicher sein, richtig gehandelt zu haben? „Habe ich Zweifel, spreche ich frei.“

Wie schaut der Alltag aus? Aktenstudium, auch im elektronischen Zeitalter auf Papier. Die Beweisaufnahme gestalten, Zeugen laden, Gutachter beauftragen, Infos weiterleiten, terminieren. „Das ist die Hauptarbeit bei der Prozessvorbereitung: Welche Zeugen will man hören und in welcher Reihenfolge.“

Es ist einer der letzten Tage in Dieckmanns Richterdasein, er sitzt im Büro in einem der Anbauten des alten Gerichtsgebäudes. Dieckmanns Hemd ist zartrosa-weiß gestreift, die Krawatte rot mit weißen Punkten. Er setzt gern Punkte, Streifen, dezenter Mix, so geht er auch ins Theater. Seine andere Leidenschaft ist Hertha, der Fußball, er spielt in einer Juristenmannschaft.

Fünf Jahre lang als Anwalt

Dieckmann war kein zielstrebiger Jurist. „Mit Mitte 20 hätte ich mir nie vorstellen können, Strafrichter zu werden.“ Er studiert Politik und Alte Geschichte, arbeitet für das Russell-Tribunal, fährt Taxi und befördert einmal eine angebliche Staatsanwältin, die ihm einen ungedeckten Scheck hinterlässt. Der Scheck führt ihn in ein Anwaltsbüro, wo er zu arbeiten anfängt und parallel ein Jurastudium absolviert.

Fünf Jahre arbeitet er als Anwalt. „Das war nicht mein Ding.“ Er bewirbt sich während des Referendariats im November 89 als Richter, das gefällt ihm, diese Ernsthaftigkeit, Dinge abzuwägen. Berlin sortiert sich gerade neu, 1992 rutscht er als Ergänzungsrichter ins Honecker-Verfahren rein. Saal 700 im Moabiter Gericht, dort wo auch Dieckmanns Verabschiedung im Dezember 2014 stattfindet.

„Als Richter ist man Teil des Systems, das muss man vorher klären.“ Dieckmann hat das für sich geklärt. „Ich habe nie zu der Sozialarbeiterfraktion gehört.“ Er ist für schnelles und konsequentes Handeln, gerade bei Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen. Am Amtsgericht hätte er sicherlich zur Fraktion seiner verstorbenen Kollegin Kirsten Heisig gehört, die das sogenannte Neuköllner Modell ins Leben gerufen hat, das beschleunigte Strafverfahren ermöglicht.

Regelmäßige Besuche in der Jugendstrafanstalt

„Ich bin nicht dagegen, bei schweren Gewalttaten jugendliche Straftäter in die Jugendstrafanstalt (JSA) zu schicken. Das ist besser als die Entlassung in die Verwahrlosung.“ Trotzdem hält er nichts von kurzfristigen Jugendstrafen. Wenn, dann mindestens ein Jahr, darunter „ist das nicht konstruktiv“, in Bezug auf einen möglichen Schulabschluss, eine Lehre oder eine Therapie. Regelmäßig hat er Besuche von Jugendrichtern in der JSA organisiert. „Wir sollten wissen, wo wir die Jugendlichen hinschicken.“

Wie es im Vollzug läuft, darüber bekommen Richter in der Regel keine Rückmeldung. Bewährungsstrafen überwachen sie hingegen selbst. Wird ein Urteil zur Bewährung ausgesetzt, sind damit Auflagen verbunden. Die Schule abschließen, Sozialarbeit leisten. Bei der JSA Berlin sieht Dieckmann „in letzter Zeit eine bedrückende Entwicklung“, da sind „keine neuen erzieherischen Ansätze mehr erkennbar“. Klingt da nicht doch der Sozialarbeiter durch? Eine sinnvolle Jugendpädagogik muss auch auf Risiken setzen, meint er nur. „Und dann passiert halt auch mal was.“ Doch die Senatsverwaltung wolle Schlagzeilen dieser Art vermeiden.

Kay-Thomas Dieckmann hat es als Glück empfunden, „Richter sein zu dürfen“. Er übt jetzt das Perfekt, im berühmten Saal 700, da wo Honecker und dem Hauptmann von Köpenick der Prozess gemacht wurde. Hier sind an einem Dezembernachmittag rund 100 Leute versammelt. Kollegen, Familie, Wegbegleiter. Ein paar Jahre hätte Dieckmann gerne noch gearbeitet. Doch das Richtergesetz kennt keine Gnade. Aber er kann weiter unterrichten, Referendare ausbilden. Als Experte für den Opferfonds Sexueller Missbrauch tätig sein.

Wo sieht er Reformbedarf? Dieckmann überlegt, die buschigen Augenbrauen rücken nach oben, dann antwortet er sehr konkret: „Dass Kollegen keine Zeugen mehr für 9 Uhr laden und dann stundenlang im Flur warten lassen.“ Oder dass man diese dann nach Stunden per Lautsprecherdurchsage „mit Dank entlassen“ würde, ohne dass sie überhaupt in den Zeugenstand gerufen wurden, weil der Angeklagte bereits geständig war. Zeugen, die Opfer einer Straftat werden, haben das Recht, gehört zu werden, sagt Dieckmann. So wie der Täter auch. Jeder hat seine Geschichte mit der Geschichte, und die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.

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