Film „Die Wolken von Sils Maria“: Sie spielen, dass sie spielen

In seinem Film über eine Schauspielerin und ihre Assistentin mischt Olivier Assayas Stummfilmelemente mit Superheldenspektakel.

Juliette Binoche als alternde Schauspielerin und Kristen Stewart als ihre Assistentin. Bild: dpa

Die Malojaschlange ist ein Wetterphänomen, das im Engadin bei Sils-Maria auftreten kann. Majestätisch und ganz ohne Eile ziehen dann die Wolkenbänke in Gestalt einer langgezogenen Boa constrictor talauswärts dahin. Was die Engadiner sagen, „La serp de Malögia porta plövgia“ („Die Malojaschlange bringt Regen“), reimt sich zwar, stimmt aber nicht.

Die Malojaschlange ist atemberaubend anzusehen, kümmert sich nicht um Schlecht- oder Schönwetterlagen und auch um alles Menschliche wenig. Zu Zank, Streit, Ambition, Eifersucht, Zickenkrieg, Hass bildet sie wie das in erhabeneren Dimensionen denkende Engadin selbst einen großen Kontrast.

Maria Enders ist eine erfolgreiche Schauspielerin, ihre Assistentin Valentine sortiert ihr das Leben. Maria ist 50, Valentine Mitte 20, am Alter hängt viel in Olivier Assayas’ „Die Wolken von Sils Maria“, wenn nicht alles.

Es beginnt damit, dass ein alter Mann stirbt, in den Bergen, aus eigenem Willen, er hatte genug. Maria telefoniert im Zug, Valentine schreibt auf einen Zettel: „Wilhelm ist tot.“ Wilhelm Melchior, der ein großer Dramatiker war, schrieb jenes Stück, „Die Malojaschlange“, das Maria als junge Frau berühmt gemacht hat. Sie ist mit Valentine auf dem Weg zu einer Ehrung für ihn. Er wäre ohnehin nicht gekommen, nun ist er tot, sie fährt trotzdem hin.

„Die Wolken von Sils Maria“. Regie: Olivier Assayas. Mit Juliette Binoche, Kristen Stewart u. a. Frankreich/Schweiz/Deutschland 2014, 124 Min.

Sie trifft auf alte Weggefährten, darunter der Schauspieler Henryk Wald (Hanns Zischler), den sie hasst. Ein junger deutscher Starregisseur namens Klaus Diesterweg (Lars Eidinger) will sie unbedingt haben für eine Londoner Neuinszenierung von Melchiors Stück. Der Clou dabei ist, dass sie die Rolle der älteren Frau spielen soll, die jener halb so alten Assistentin tödlich verfällt, als deren Darstellerin Maria Enders einst der Durchbruch gelang.

Sie überlegt hin, sie überlegt her – und sagt zu. Die Rolle der Assistentin, die sie einst spielte, übernimmt ein skandalumwitterter junger Hollywoodstar mit Superheldenerfahrung namens Jo-Ann Ellis. Das ist der Plot, den Assayas schürzt. Jedoch wirkt er in ihn weitere Ebenen so zwanglos hinein, dass einem mit der Zeit aufs Angenehmste schwindlig wird.

Die Besetzung ist die wahre Pointe

Zum Beispiel mit der Besetzung. Dies ist ein Film, bei dem man davon nicht absehen kann, und nicht soll. Fast ist sie die wahre Pointe. Juliette Binoche spielt als Maria Enders nicht zuletzt auch sich selbst, eine erfolgreiche Schauspielerin in den mittleren Jahren. Ähnliches gilt für Hollywoodstar Kristen Stewart als Valentine, die zwar keine Schauspielerin spielt, aber als Probenpartnerin für Enders/Binoche halb dann doch an die Stelle der Assistentin im Melchior-Stück rückt.

Den Text in der Hand spielen Maria und sie im Haus in den Bergen, auf Pfaden in schwindelnder Höhe, im Gras, auf der Couch, am Küchentisch und im Garten. Sie fallen aus der Rolle in den Text des eigenen Lebens und dann zurück ins Stück, bis man als Zuschauer kaum mehr weiß, wo das Stück endet, das Leben beginnt, zumal die Konstellation von Stück und Film sich immer ähnlicher werden, ohne sich je ganz zu gleichen. Spielen sie, oder spielen sie, dass sie spielen? Wissen sie in jedem Moment selbst, wer sie sind, was sie tun? Oder ist gerade das Verwischen des Unterschieds der entscheidende Punkt?

Klingt kompliziert, ist aber noch komplizierter. Denn in den amourösen Konflikt im Stück weben sich die Konflikte zwischen Valentine und Maria – die persönliche, aber auch ästhetische sind. Valentine ist im Internet unterwegs, stets auf dem Laufenden über den neuesten Tratsch, ist ein Fan von Superhelden und Blockbustern und bietet Maria, der französischen Kunstliebhaberin und Internetskeptikerin (ein iPad hat sie aber sehr wohl), immer wieder Paroli.

Arthouse und Actionformate

Das ist der Riss, der auch durch Assayas’ eigene ästhetische Biografie geht, die Liebe einerseits zu literarischen Formen, zu Arthouse und Kunst; andererseits die große Lust an der Aneignung von Genre-, Action- und Thrillerformaten. „Die Wolken von Sils Maria“ ist nun selbst in seinem filmischen Anspielungsreichtum und seiner literarischen Metaebenenlust ganz klar ein Werk aus der Abteilung Kino als Kunst. Nur hier aber, das ist die These, lässt sich der ewige Doppelcharakter des Kinos zwischen Anspruch und Kommerz verhandeln, wenngleich ganz gewiss nicht versöhnen.

Die andere Seite kommt allerdings ebenfalls vor: als Sci-Fi-Superhelden-Spektakel-Zitat, das Assayas höchstpersönlich gedreht hat. Sein Kino, so womöglich die Behauptung, kann alles, sich selbst, aber auch das andere seiner selbst, inkorporieren.

Und auch das Theater. Auf der Bühne endet der Film. Über den Epilog, der mit einem harten Schnitt alles noch einmal in ein anderes Licht setzt, wäre viel zu sagen, aber man müsste dafür zu viel verraten. Und natürlich hat Assayas auch die Rolle der Jo-Ann Ellis, die dann im Theater ihr wahres Gesicht zeigt, mit dem Hollywood-Nachwuchsstar Chloë Grace Moretz superclever besetzt. Es sind darüber hinaus an vielen Stellen weitere Spiegelverhältnisse in den Film eingezogen. Hier aber genug mit den Komplikationen.

Stattdessen ist etwas sehr Erstaunliches zu berichten: Alles, was ich bisher über den Film schrieb, klingt eigentlich so, als wäre er sagenhaft smart und außerordentlich meta, aber doch auch schrecklich angestrengt und nur für Insider zu genießen.

Fast ein klassisches Werk

Das aber ist gar nicht der Fall. Assayas versteckt seine Kunst nicht, aber er stellt sie auch keineswegs aus. Die Zutaten sind allesamt hohe (Post-)Moderne, aber im Ergebnis ist „Die Wolken von Sils Maria“ fast ein klassisches Werk. Dabei bindet Assayas die sich gegenseitig reflektierenden Elemente nicht mühsam zusammen, sondern bringt sie mit Witz, Geduld, Sinn für Intensitätsaufbau und Ellipsen zum Schweben.

Ein sehr erwachsenes Kino von enormer Großzügigkeit: Es bereitet den hinreißenden Darstellerinnen die Bühne und nimmt zugleich Material unterschiedlichster Art in sich auf; einen Stummfilm mit Aufnahmen der Malojaschlange, von Arnold Fanck von 1924 ebenso wie haarsträubend authentisch aussehende Online-Clips von Jo-Ann Ellis, aber dann eben auch das selbstgedrehte Superheldenspektakel, in dem Nora von Waldstätten im Duell mit Chloë Grace Moretz in tausend Teile zerstäubt.

Nostalgie und Neugier auf Gegenwart sind in Dialog und Bild ausbalanciert; die Ästhetikdiskurse werden mit den Proben und der immer tiefer ambivalenten Beziehung von Valentine und Maria auf so ingeniöse wie unaufdringliche Weise verschränkt. Das Stückmaterial wird zur Waffe, der Text ist mal Zitat, mal anverwandelt, und manchmal ist vollkommen unklar, wie gemeint ist, was eine der beiden mit Melchiors Worten sagt. Man kann nur staunen, wie das ein organisches Ganzes ergibt, das sich manchmal geradezu freihändig hingetuscht anfühlt.

Es hat auch mit der schieren Schönheit zu tun, der Schönheit des Engadin, seiner Berge und natürlich der Boa constrictor aus Wolken. Darunter und dahinter legt Assayas herrliche Musik vor allem von Pachelbel und Händel, die mit der Natur und nicht mit dem so aufreibenden wie aufregenden Streit der Schauspielerinnen im Bund zu sein scheint. Diese Musik ist nicht als emotionale Untermalung gemeint; eher ist sie Olivier Assayas’ gelassener Hinweis darauf, dass auch in einem so dialogreichen Film nicht die Sprache das letzte Wort haben muss.

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