Kommentar Bahnstreik: Historische Geschmacklosigkeit

Wie kommt die GDL dazu, ausgerechnet am 9. November zu streiken? Die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach ist empört. Zu Unrecht.

Wie passt ein Streik zum würdigen Gedenken an die friedliche Revolution? Bild: dpa

„Früher hat die SED die Reisefreiheit eingeschränkt, zum Jubiläum des Mauerfalls beschneidet die GDL die Reisefreiheit!“ Mit diesen Worten kommentiert die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach den Bahnstreik auf Twitter. Es ist eine historisch geschmackloser Vergleich, denn die GDL schießt nicht auf Streikbrecher. Sie nimmt stattdessen das Streikrecht in Anspruch, das die DDR-Bürger sich durch die friedliche Revolution am 9. November erkämpft haben.

Wenn Frau Steinbach schon an „früher“ erinnert, als es die SED noch gab, dann wird ihr wahrscheinlich auch noch bekannt sein, welcher Tag damals der Nationalfeiertag der BRD war: der 17. Juni. Im Jahr 1953 hatte nämlich die DDR-Führung die Arbeitsnormen für die Werktätigen erhöht: Die Arbeiter sollten für den gleichen Lohn zehn Prozent mehr arbeiten. Die Bauarbeiter an zwei Großbaustellen legten daraufhin die Arbeit nieder. Sie zogen zuerst vor die Zentrale des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, da sie ihre Interessen von der Großgewerkschaft nicht mehr vertreten sahen. Anschließend ging es weiter zum Regierungssitz.

Am nächsten Tag, dem besagten 17. Juni, streikten die Arbeiter auch an hunderten anderen Orten in der DDR. Die DDR-Behörden waren überfordert. Die Sowjetunion erklärte den Ausnahmezustand, 20.000 Soldaten rückten aus ihren Kasernen aus und in die Städte ein, der Protest brach zusammen, es gab Dutzende Tote. In den meisten Betrieben gingen die Beschäftigen wieder zur Arbeit, nur an wenigen Orten dauerten die Streiks noch ein paar Wochen an. Die vermeintlichen Organisatoren der Arbeitsniederlegungen wurden verhaftet und inhaftiert.

Die BRD hatte diesen Aufstand in der DDR zu ihrem Nationalfeiertag erklärt. Einmal pro Jahr legten also alle Beschäftigten in Westdeutschland ihre Arbeit nieder, um daran zu erinnern, wie den Schwestern und Brüdern im Osten das Streik- und Demonstrationsrecht genommen wurde. Die Behörden blieben den ganzen Tag über geschlossen, der Müll wurde nicht abgeholt, die Schule fiel aus, in den Geschäften blieben die Türen zu. Und so ging das jedes Jahr, 37 Jahre lang. Keine Gewerkschaft in der deutschen Geschichte hat jemals für einen solchen Ausstand gesorgt wie die Bundesregierung mit der Ausrufung des 17. Juni zum Nationalfeiertag.

Streikrecht im Unrechtsstaat

Auch in der Debatte, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, wird auf den 17. Juni 1953 verwiesen. Der DDR-Bürgerrechtler und spätere CDU-Bundestagsabgeordnete Rainer Eppelmann sagte in einem Interview: „So ist das in der Verfassung verbürgte Streikrecht am 17. Juni vor aller Welt gebrochen worden. (...) Dazu fällt mir zutreffend kein anderer Begriff als Unrechtsstaat ein.“

Erst mit der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung können die Ostdeutschen wieder streiken, ohne Schikanen oder Haft fürchten zu müssen. Im Grundgesetz wird das Recht, Gewerkschaften zu gründen und „Arbeitskämpfe“ auszutragen, in Artikel 9 garantiert. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) möchte den Umfang dieses Rechts nun einschränken.

In der DDR-Verfassung stand: „Das Streikrecht der Gewerkschaften ist gewährleistet.“ Die Arbeitsniederlegung vom 17. Juni war nach DDR-Recht illegal, da sie von keiner der Gewerkschaften organisiert wurde. Wenn Nahles sich mit ihrem Vorschlag durchsetzt, wird das Streikrecht sinngemäß lauten: „Das Streikrecht ist nur noch für die größte Gewerkschaft im Betrieb gewährleistet.“

Das Streikrecht in der BRD wäre dann also noch restriktiver als in der DDR – allerdings ist auch dieser Vergleich historisch geschmacklos. Denn im Sozialismus wurde abweichendes Verhalten mit Repression bestraft, mit Polizisten und Soldaten. Das muss in der BRD zum Glück niemand fürchten. Der Neoliberalismus hat eine wesentlich humanere, deutlich kostengünstigre und mindestens genauso effektive Möglichkeit gefunden, abweichendes Verhalten zu bestrafen: finanzielle Sanktionen. Wer illegal streikt, wird fristlos entlassen. Und weil dies als selbstverschuldet gilt, zahlt der Staat anschließend drei Monate lang keinerlei Arbeitslosengeld.

Das Recht auf Streik jedenfalls ist in beiden Fällen nicht gewährleistet – egal ob jemand aus Angst vor dem Gefängnis oder aus Angst vor Armut darauf verzichtet. Doch das muss nicht so bleiben, wie die deutsche Geschichte zeigt. Rechte lassen sich erkämpfen. Wenn genug Leute mitmachen, dann kann der Druck der Straße sogar einen ganzen Staat umstürzen. Man kommt nicht im Schlafwagen zu mehr Macht. Es gibt keinen besseren Tag als den 9. November, um daran zu erinnern. Danke, GDL!

PS: Liebe Erika Steinbach, das Wort „Reisefreiheit“ meint übrigens die Freiheit, selbst reisen zu dürfen. Es bedeutet nicht, dass Sie andere Leute zwingen dürfen, Sie zu befördern.

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