Auf Wunder hoffen

Sie tauchen wieder auf: die Wasserfrauen, die an den Menschen zugrunde gehen. In Ludwigshafen glänzt Laetitia Casta als „Ondine“, und Eleonore Marguerre leidet als „Melusine“ in Weimar

Ein Symptom der Sehnsucht ist das Wiederaufleben der Märchen – eine vergebliche Sehnsucht, wie die Aufführungen zeigen

VON MATTHIAS CHRISTIAN MÜLLER

Ein Gespenst geht um in der Welt – das Gespenst der Unbehaglichkeit. Die Mächte der alten Welt haben sich zu einer Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der US-Präsident und die Ölprinzen, Schäuble und Beckstein, konservative Radikale und deutsche Sofasitzer.

Wo ist die Oppositionspartei, die nicht einstimmt in den Refrain unsrer Tage: The good times, they are a-changin’, the bad times are to come! Das Biedermeier der Nachkriegszeit ist 1989 sanft beerdigt worden; der hysterische Leichenschmaus der 90er-Jahre wurde am 11. 9. 2001 mit einem grausamen Feuerwerk spektakulär beendet. Und zunehmend beharrlicher treten die Schreckgespenster der Zeit hervor: Umweltzerstörung, Krankheiten, bitterste Armut von Milliarden Menschen, die Krisen der Fettpolsterstaaten, der Aufstieg autoritärer Regime, die Gefahr potenzieller Terrorattacken. Die Seelen der Bürger beginnen sich unruhig zu winden und repetierend haltlos zu flüstern: „Es wird mir so unbehaglich zumute.“

Aber diese Unbehaglichkeit ist nur schwer auszuhalten. Eine neue Sehnsuchtswelle zieht über Deutschland hinweg: Eine heile Welt wird allenthalben herbeifantasiert, der Wunsch nach einer umfassenden Poesie formuliert sich, so dass anstelle dieser schieren Unerträglichkeit der angenehme Glanz des Wunders strahlt – Paradise made in Germany. Um aber einem Missverständnis vorzubeugen: Es handelt sich bei dieser Sehnsucht auch um ein konzeptuelles Problem. Großen Leidensdruck verursacht nämlich die Schwierigkeit, einigermaßen widerspruchsfreie Erklärungen zu einer konsistenten Selbst- und Weltsicht zusammenzufügen. Ein Symptom dieser Sehnsucht ist das Wiederaufleben der Märchen. Angesichts der zunehmend als schicksalhaft erfahrenen Entwicklung zum Schlechten hin bieten die in Märchen entwickelten Entwürfe einen besonderen Reiz. Deren ästhetische Wirkung, implizite Erkenntniskraft und das in ihnen entfaltete Arsenal an Verhaltensmodellen und ethischen Prinzipien ist eingespannt in eine mythische Welt mit weitreichenden Schicksalszusammenhängen. Märchen tauchen gegenwärtig in den unterschiedlichsten Medien und Gattungen auf. Besonders augenfällig am Comeback der Märchen ist das Wiederauftauchen des Sujets der Wasserfrauen – mögen sie Undine/Ondine, Melusine oder Russalka heißen.

Die mittelalterliche Melusine-Sage erzählt von einer Meerfee, die sich mit einem Sterblichen vermählt, von ihrem Mann trotz dessen gegenteiligen Versprechens in ihrer Nixengestalt beobachtet wird und daher in ihr Geisterreich zurückkehren muss. Die Undine-Sage wiederum erhielt ihre klassisch gewordene Prägung 1811 in der Undine-Erzählung des Romantikers Friedrich de la Motte-Fouqué. Von den vielen aktuellen Wasserfrauenkunstwerken seien zwei eminente Produktionen kurz beleuchtet. Bei den Festspielen Ludwigshafen entstieg dem Rhein keine Namenlosere als das französische Supermodel Laetitia Casta. Mit großer Kraft spielt sie die Rolle der Ondine in Jean Giroudoux’ gleichnamigem Stück. Die heute 27-Jährige stand 1999 Modell für die Büste der Marianne, der Personifikation der Republik. In einer Gastproduktion der Pariser Scène indépendante contemporaine und in Jacques Webers spartanischer Inszenierung wurde jetzt also aus der Symbolfigur Marianne eine am Pfalzbautheater naturkindhaft im Nachthemd über die Bühne flitzende Ondine, die den blonden Ritter Hans ebenso liebt wie bestrickt und ihn seine Verlobte Bertha vergessen lässt. Als er sich entgegen seinem Treueversprechen wieder Bertha zuwendet, muss er sterben.

In Weimar hingegen läuft Aribert Reimanns expressive Öko-Oper „Melusine“ in der Regie von Michael Schulz mit der gleichfalls 27-jährigen Eleonore Marguerre als hinreißender Melusine. Als in Melusines Park zu ihrem Entsetzen ein Schloss gebaut werden soll, betört sie Architekten, Maurer und Vermesser so sehr, dass diese die Waffen strecken. In einem kristallin entrückten Liebesduett voller unerhört zarter, in Brand setzender Klänge verleiht Eleonore Marguerre der Melusine unvergessliche Präsenz. Weil Melusine aber schwach wird und dem Bauherrn in die Arme sinkt, legt die alte Parkmatrone Pythia das alle versengende Feuer.

Die konzeptuelle Tragkraft dieser Inszenierungen ist in die zentralen Motive eingewoben: In den Melusine/Undinen-Märchen treffen Menschen aus unterschiedlichen Welten aufeinander. Die Wasserfrau ist unwiderstehlich reizvoll; das sich alsbald einstellende Glück ist allerdings an Bedingungen geknüpft wie die Einschränkung des Wissens, die unverbrüchliche Treue oder gar die emotionale Zurückhaltung der Wasserfrau. Dennoch werden die tragischen Verläufe der Geschichten nicht als Aufruf zur Bescheidenheit oder Rückbesinnung auf tradierte Werte auf die Bühne gebracht.

Für beide Inszenierungen gilt, dass sie mit ihrem Wasserfrauensujet dem Wunsch nach Flucht vor der Realität zwar Ausdruck verleihen, diese Sehnsucht aber andererseits schon durch ihre Bilder als vergeblich kennzeichnen. Nicht zuletzt löst die Tragik der Geschichten ein Nachdenken über die Fluchtbewegungen aus. So reflektieren sie den Wunsch nach dem Märchenhaften in der Stimmung der Gegenwart.