Münchner Straßenzeitung in der Kritik: Bis(s) zur Erschöpfung

Seit mehr als 20 Jahren gilt die Münchner „Biss“ als soziales Vorzeigeprojekt. Doch die Verkäufer berichten von miesen Arbeitsbedingungen.

Das Unternehmen Biss hilft vielen Menschen aus der Not Bild: dpa

MÜNCHEN taz | Mit hängenden Schultern sitzt der kleine Mann auf einem Hocker in einem U-Bahn-Zwischengeschoss in München. Seine schwarzen Haare sind fettig, seine abgewetzte Jacke muss einmal beige gewesen sein. Passanten strömen an ihm vorbei, nur selten werfen sie einen Blick auf die Zeitschrift in seiner Hand. Er hat es die letzten Monate nicht geschafft, sein Soll von 400 Stück zu verkaufen. Deshalb arbeitet er auch im August, eigentlich sein Urlaubsmonat. Der 40-Jährige hat Probleme mit dem Rücken, Zeit, zum Arzt zu gehen, finde er nicht, sagt er, denn: „Wenn man die Stückzahl nicht hinkriegt, drohen sie mit Kündigung.“

Sie, das sind die Denningers. Das Ehepaar leitet seit rund 20 Jahren die Obdachlosenzeitung, er als Sozialarbeiter, sie lange Jahre als Geschäftsführerin, seit Kurzem als Assistenz der Geschäftsführung. Seit 1993 gibt es das Projekt Biss – Bürger in sozialen Schwierigkeiten, 1995 wurde es als gemeinnütziger Verein eingetragen. Laut Satzung leistet er „Hilfestellung zur Wiedereingliederung“ und eine „Stärkung des persönlichen Selbstbewusstseins“ für „sozial Benachteiligte“.

Nur ein paar Meter von den Verkäufern hängen große Werbeplakate. Sie zeigen, wie die Denningers ihre Verkäufer sehen: In schäbiger Hose, aber mit erhobenem Kopf geht ein Mann auf den Betrachter zu, hinter ihm ein düsterer Müllberg. „Mit Biss die Schattenseiten verlassen“ steht darüber. Darunter seine Geschichte: ging in Konkurs, lebte auf der Straße, kommt zu Biss, wird Herr seines Schuldenbergs.

Es sind diese Erfolgsgeschichten, die Biss über München hinaus zum sozialen Vorzeigeprojekt machten. Für Ex-Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel ist Biss ein „Glücksfall“, der Journalist Heribert Prantl sieht in Hildegard Denninger einen „Engel“. Christian Ude und Jürgen Klinsmann warben öffentlich für Biss, die Band Sportfreunde Stiller spenden seit Jahren.

„Ausgezeichnete Jobs“

Besonders stolz ist die Biss-Geschäftsführung auf ihre 42 festangestellten Verkäufer. Keine andere Straßenzeitung biete solch „ausgezeichnete Jobs“ mit Sozialhilfebeiträgen und Krankengeld. Das System Biss funktioniert so: Die Verkäufer kaufen Zeitschriften für 1,10 Euro das Stück und verkaufen sie für 2,20 Euro weiter. Damit erwirtschaften sie einen Großteil ihres Gehalts selbst, den Rest – 133 Euro netto – bekommen sie von Biss.

Die meisten verkaufen 400 Stück im Monat und verfügen damit monatlich über 573 Euro netto, die Wohnung übernimmt oft das Sozialamt. „Sehr knapp bemessen“ sei das in einer Stadt wie München, sagt ein Verkäufer. „Ohne Trinkgeld geht es nicht.“ Deshalb gingen viele „mit aller Gewalt auf die Straße“, auch wenn sie krank sind, sagt Biss-Mitbegründer Bernhard Gutewort.

Laut ihrem Arbeitsvertrag sollen sie in der Woche 21 Stunden arbeiten. Viele sagen, sie stehen 40 bis 50 Stunden. Zusätzliches Geld gibt es dafür nicht, die „darüber hinausgehende Zeit“ wird laut Vertrag „nicht vergütet“. Das sei arbeitsrechtlich „grenzwertig“, sagt der Anwalt Wilfried Futschik. Vor allem, wenn die Stückzahlen in der angegebenen Zeit nicht zu leisten seien. Stimmen die Angaben der Verkäufer, kämen sie auf einen Stundenlohn von 4 Euro, mit Trinkgeld um die 7 Euro.

Biss-Sozialarbeiter Johannes Denninger bekommt bei dieser Rechnung einen roten Kopf. In einem Film des Bayerischen Rundfunks kündigte er an, bald den Mindestlohn zahlen zu können. Die Zeiten seien nicht „zu eng bemessen“, betont er immer wieder, dann platzt es aus ihm heraus: „Sie haben recht, die stehen natürlich fast alle länger, als im Vertrag steht, aber das ist nicht das Relevante.“

Auf Augenhöhe, statt Prostitution

Das Relevante sei, was Biss für seine Verkäufer tue, und das klingt nicht schlecht: Mit etwa 250.000 Euro pro Jahr ermöglicht Biss seinen Verkäufern Zusatzleistungen wie Zahnbehandlungen oder die Einrichtung für eine neue Wohnung und hilft bei ihrer Entschuldung. Die Hälfte der Schulden übernimmt Biss ganz, der Rest wird zu moderaten Raten von den Verkäufern gezahlt.

Bei anderen Straßenzeitungen müssten sich die Verkäufer „leicht prostituieren, um ihre Zeitung loszuwerden“, sagt Denninger. Als Festangestellte stünden die Biss-Verkäufer auf Augenhöhe mit ihren Kunden und ihm selbst. Deshalb gehe es in Gesprächen mit seinen Verkäufern erst mal nicht um deren soziale Probleme, sondern um ihre Leistung. Biss sei keine „soziale Einrichtung, sondern ein soziales Unternehmen“.

„Mit der Betonung auf Unternehmen“, sagt Andreas Unger. Der Journalist arbeitete fast drei Jahre als Chefredakteur bei Biss, zusammen mit Günter Keil. Der sagt: „Das vorderste Ziel der Denningers ist es, die Auflage zu erhöhen.“ Derzeit liegt sie bei 38.000 Zeitschriften im Monat. Das Leistungsprinzip bringt Geld, von dem alle profitieren. Viele scheinen aber auch darunter zu leiden.

„Es ist ein enormer Druck“, sagt Andre Schmitt, der acht Jahre als Biss-Verkäufer arbeitete. Wer mit seinen Verkaufszahlen hinterherhinkt, muss damit rechnen, eine Abmahnung zu bekommen. Wenn Schmitt im Rückstand war, warf er die Hefte trotz finanzieller Einbußen weg. Ein aktiver Verkäufer stimmt zu: „Dann hat man weniger Geld, riskiert aber keine Abmahnung.“

Die Mitarbeiter-des-Monats-Motivation

In einem Schreiben, das der taz vorliegt, wird die „entgegenkommende Regelung“ von Biss beschrieben: „Es werden immer drei Monate rückwärtig betrachtet und festgestellt, ob auf diese Zeit der vertraglich vereinbarte monatliche Soll erreicht wurde“. Biss-Mitarbeiter Hinsche und viele Verkäufer bestätigen das.

„Quatsch“, sagt hingegen Arbeitgeber Denninger. Nur wenn in einem Zeitraum von ein bis drei Jahren deutlich werde, dass das Soll nicht erfüllt wird, gebe es eine Abmahnung. Um seine Verkäufer zu motivieren, hat er andere Strategien.

Wer mehr verkauft, bekommt als Bonus ein höheres Weihnachtsgeld. Jeden Monat wird ein Ranking aufgestellt, die Spitzenverkäufer werden gefeiert, erzählt Biss-Mitbegründer Bernhard Gutewort. Ungefähr sieben Top-Verkäufer werden belohnt. Sie bekommen die besten Verkaufsplätze, dürfen auch mal auf eine Auslandsreise nach Australien oder Mexiko. Und die anderen? Gutewort hält den Daumen nach unten. Dass die auch mal gelobt würden, komme nicht vor, sagt er.

Klima der Einschüchterung

Journalist Andreas Unger erlebte bei Biss ein Klima der „Einschüchterung, die in keinem integren Unternehmen durchgehen würde“. Den Umgang der Denningers mit den Verkäufern hält er für „ziemlich harsch und ruppig“. Kritik hörte er nur hinter vorgehaltener Hand.

Klar ginge es bei Biss auch manchmal lauter zu, sagt Denninger zu den Vorwürfen, das sei aber „nicht die Regel“. Die Biss-Verkäufer Gutewort und Schmitt haben es anders erlebt. Vor allem Hildegard Denninger, der „Engel“, würde „ausflippen“, wenn es nicht nach ihrem Kopf ginge. „Was Denninger sagt, ist Gesetz“, sagt Gutewort. Dafür, dass sich viele anfangs schämen, eine Obdachlosenzeitung zu verkaufen, habe sie kein Verständnis. Auch nicht, wenn einer jammere, weil er wenig verkauft hat.

Immer wieder gingen Mitarbeiter vors Arbeitsgericht München. Denninger spricht von vier Fällen in fast 20 Jahren, einmal hätte Biss gewonnen, zweimal wurde ein Vergleich geschlossen, eine Klage zurückgezogen. Laut dem Arbeitsgericht München waren es in 15 Jahren weitaus mehr: 13 Verfahren sollen gegen Biss geführt worden sein. Auch aktuell klagt ein ehemaliger Verkäufer, der sich um circa 1.800 Euro Gehalt betrogen fühlt.

Zweimal versuchten Biss-Verkäufer einen Betriebsrat zu gründen. Als sie dafür 2010 bei Ver.di-Mitarbeiter Bernd Mann waren, hatte der den Eindruck, bei Biss herrsche eine „Hackordnung“. Mitarbeiter, die Kritik äußern, seien „unten durch“. Sein Kollege Ertunc Eren hörte Ende 2013, dass nur geholfen werde, „wenn die Verkäufer die Verkaufszahlen höher treiben“.

Ein ausgeprägtes Konkurrenzprinzip

Eren und Mann haben keine Beweise für die Behauptungen der Verkäufer, erlebt haben sie ihren Frust und ihre „massive Angst“, den Verkaufsplatz zu verlieren. Dass es nie zu einer Betriebsratsgründung kam, liege unter anderem daran, dass unter einigen der Verkäufer ein ausgeprägtes Konkurrenzprinzip herrsche.

Johannes Denninger sagt, ein Betriebsrat sei „kein Problem“. Biss-Mitarbeiter Hinsche und Verkäufer Gutewort berichten dagegen, seine Frau habe deutlich gemacht, was sie von einem Betriebsrat halte: nichts. „Wer sich zu weit aus dem Fenster lehnt, kann auch rausfallen“, sagt Hinsche.

Trotz aller Klagen finden viele Biss-Verkäufer ihre Firma sozial. Sie sind dankbar, einen Weg aus der Obdachlosigkeit gefunden zu haben. Nur wenige beschweren sich, dass sie länger unbezahlt arbeiten müssen. Viele sind stolz, so viel für Biss zu tun.

Andreas Unger sieht aber auch die Kehrseite der Dankbarkeit: Die Verkäufer seien von Biss „de facto abhängig“. Das schafft seiner Meinung nach eine Unfreiheit, von der Denningers profitieren. Häufig sind Biss-Verkäufer schwerbehindert, krank oder alt. Dass sie einen anderen Arbeitgeber finden, ist unwahrscheinlich.

Andre Schmitt war 31, als er bei Biss anfing. Nach acht Jahren wollte er „raus aus dem Druck“. Seine Kündigung schickte er schriftlich, er hatte keine Lust auf das „Geschrei“. Jetzt arbeitet er auf dem Wertstoffhof. Jeden Freitag besucht er einen ehemaligen Kollegen von Biss und bringt ihm Essen vorbei.

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