Der sonntaz-Streit: Die große Scheinselbstlosigkeit

Die Eiswasser-Aktion spült viel Geld in die Kassen der ALS-Association. Mitmachen liegt im Trend. Der Lohn: ein wenig Ruhm auf Twitter und Facebook.

Viele Teilnehmer kennen den Sinn der Ice Bucket Challenge nicht. Bild: dpa

Anne Will hat's getan, Manuel Neuer hat's getan, Oliver Pocher gleich mehrfach und über Cem Özdemirs Auftritt mit Hanf-Accessoire wird immer noch gesprochen: die Ice Bucket Challenge hatte in den letzten Wochen einen großen medialen Erfolg. Auf über zwei Millionen Twitter- und Facebook-Accounts sind Videos zu sehen, in denen sich User einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf schütten.

Mitte Juli startete die Online-Aktion mit einem Video des amerikanischen Baseballspielers Peter Frates. Der an ALS (Amyotrophen Lateralsklerose) Erkrankte forderte andere US-Sportler heraus: spendet 100 Dollar an die ALS-Association oder 10 Dollar und schüttet euch einen Eimer Eiswasser über den Kopf. Anschließend werden drei weitere Teilnehmer zur gleichen Aufgabe herausgefordert – ihre Facebook- und Twitter-Seiten stehen sogleich unter Beobachtung von Freunden und Followern.

Neu ist das Konzept nicht: Erst Anfang des Jahres gab es den Trend, sich dabei zu filmen, wie man Bier auf ex trinkt. Die Kandidaten zeigten sich immer kreativer, was die Videos außerordentlich erfolgreich werden ließ – einen karitativen Hintergrund hatte diese Aktion aber nicht. Die erfolgreiche Verbindung zwischen sozialem Engagement und Internettrend schaffte erstmals die Ice Bucket Challenge. Während im Vorjahreszeitraum 2,5 Millionen US-Dollar an die ALS-Association gespendet wurden, konnte die Eiswasser-Aktion bislang über 90 Millionen Dollar einfahren.

Ice Bucket Challenge zur Selbstinszenierung?

„Die Ice Bucket Challenge gehört zum Morbidesten, was ich bislang erlebt habe“, kritisiert Philipp Ruch vom Zentrum für Politische Schönheit. „Es wirkt wie der hilflose Versuch einer Gesellschaft, die im geistigen Verfall begriffen ist, wieder zu einer Form von Bewusstsein zu kommen.“ Tatsächlich wird die Ice Bucket Challenge von vielen Seiten kritisiert: Spenden Menschen nur noch, wenn jemand hinsieht? Wie reflektiert gehen Teilnehmer mit solchen Aktionen um?

Braucht es einen Trend, damit die Gesellschaft wieder aktiv wird? „In den letzten Wochen haben wir den Erfolg der Ice Bucket Challenge beobachtet“, schreibt W. Keith Campbell, Professor an der Georgia Universität, im englischen Independent. „Man fand heraus, dass weniger als die Hälfte der Teilnehmer wirklich spenden. Geht es für einige also um das Bewusstsein für ALS oder vielmehr um Selbstvermarktung?“

Auch Katja Maurer von der Hilfsorganisation medico international würde lieber auf eine Trendaktion wie der Ice Bucket Challenge verzichten: „Aufgeklärte Spenderinnen und Spender gibt es zur Genüge“, sagt sie. Wer für die Arbeit syrischer Ärzte spendet, die die Demokratiebewegung in ihrem Land unterstützen, oder palästinensischen Menschenrechtlern im Gaza-Konflikt zur Seite steht, der wisse um die Wirklichkeit der Globalisierung und die Notwendigkeit der Veränderung.

Kommt das Wissen der Zukunft aus dem Hinterhof? Bürgerwissenschaftler verzichten zugunsten ihrer Unabhängigkeit auf Diplome und Gehälter, haben dafür aber oft mehr auf der Pfanne als ihre professionellen Kollegen. Der Stand der Forschung in der taz.am wochenende vom 6./7. August 2014. Auf der Couch des taz-Psychoanalytikers Christian Schneider ist dieses mal die CSU-Spitzenpolitikerin Dorothee Bär. Und: Hessens Grüner Wirtschaftsminister Tarek Al Wazir wundert sich selbst, dass Schwarz-grün so reibungslos funktioniert. Und erklärt im Gespräch, warum. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Für die Altenpflegerin Juliane Gorges sind soziale Netzwerke trotzdem kein schlechter Ansatz, um Spendenaktionen bekannt zu machen. „Dadurch werden enorme Summen an Spendengeldern eingenommen.“ Das treibe wiederum die Forschung voran. „Bessere Kenntnisse kämen meinen ALS-Patienten zugute“, sagt sie.

Die Hälfte der Spenden gehen an Mitarbeiter

Dem stimmt Ute Oddoy zu. Die Frauenärztin lebt seit acht Jahren mit ALS – Betroffene sterben im Durchschnitt nach drei bis fünf Jahren an der unheilbaren Krankheit. „Die Aktion lebt von der Schadenfreude über derangierte Stars. Über Selbstinszenierungen sehe ich als ALS-Betroffene gnädig hinweg.“

Bleibt abzuwarten, was mit den riesigen Geldsummen an die sogenannte „Non-Profit-Organisation“ ALS-Association passieren wird. Denn wie Peter Mühlbauer in einem Heise-Artikel verrät, gab die Organisation 2013 mehr als die Hälfte der „Spenden in Höhe von 24 Millionen US-Dollar für ihre Mitarbeiter aus.“ Aus dem letzten veröffentlichten Steuerbescheid ging hervor, dass die Präsidentin der ALSA rund 28.289 Dollar monatlich verdiente. Der Finanzchef bekam ein Monatsgehalt von 16.771 US-Dollar.

Eine Information, die besonders regelmäßige Spender außerhalb der Ice Bucket Challenge interessieren könnte. „Sie wollen genau wissen“, sagt Katja Maurer von medico international, „wer wem warum und mit welchem Ziel hilft.“

Die Streitfrage der Woche beantworten außerdem der Direktor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Jürgen Schupp, der Komiker und IBC-Teilnehmer Maddin Schneider, der taz-Leser Markus Schmidt und die Präsidentin von Brot für die Welt Cornelia Füllkrug-Weitzel – in der taz am wochenende vom 30./31. August 2014.

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