Kinofilm „Wolfskinder“: Das Rohe und das Weichgezeichnete

Der Film „Wolfskinder“ erzählt von deutschen Kindern, die 1946 durchs Baltikum fliehen. Ein diffuser Wunsch nach Archaik paart sich mit Täterverklärung.

Hier zählt nicht Geschichtskenntnis, sondern der Druck auf die Tränendrüse. Bild: dpa

„Nicht hingucken, essen“, sagt Hans zu Paul, als Paul sich ekelt vor den verdorbenen Speiseresten in der Konservendose, die Hans in der kaputten Scheune aufgetan hat. Für die interessierte Beobachterin des deutschen Fernsehens stellt sich damit eine Verknüpfung zum „Dschungelcamp“ her. Darin hätte der Satz als mediengetriebener Spielshow-Sadismus genauso fallen können.

In Rick Ostermanns Film „Wolfskinder“ wird die Aufforderung als Ausweis urwüchsigsten Überlebenskampfs wieder größerem Sinn zugeführt: Es gibt Situationen, in denen der Hunger den Ekel überstimmt. In „Wolfskinder“ wird nie mit Besteck gegessen; als erste Mahlzeit steht zerbrochenes Wachtelei auf dem Plan, das roh vom Finger gelutscht oder gleich mit der Zunge aus der Ledertasche geschleckt werden muss.

Liegt daran, dass, wie ein Insert mitteilt, „Sommer 1946“ ist, heißt: „Ostpreußen und Litauen unter sowjetischer Verwaltung“. Draußen, also im Film, sieht es aber so aus, wie es in Filmen von heute vor Mai 1945 auszusehen pflegt, zuletzt in Pepe Danquarts „Lauf Junge Lauf“: Das Leben der Hauptpersonen ist in Gefahr, nämlich durch Männer in Armee-Uniformen, die auf Jeeps angerasselt kommen, schreiend und Gewehre schwingend in Häuser rennen auf der Suche nach sich versteckenden Gesuchten. Also müssen die Hauptpersonen abtauchen und sich durchschlagen, und wenn sie an einen Hof kommen, wissen sie nie, ob die Bauernfamilie ein Herz hat oder einen Hass.

Die bittere Realität ist nun: Die Hauptpersonen bei Ostermann (Buch und Regie), die flüchtigen Hans-Paul-Christel-Wolfskinder, sind nazideutsche Waisen nach einem verlorenen Krieg – und der Film kommt nicht einmal auf die Idee, zurückzuschauen auf den geschichtlichen Komplex, aus dem er seine Handlung ableitet.

Werwolfskinder erschießen

Was kein Zufall ist, wie die unglaublich verdruckste „Anmerkung“ des Filmemachers im Presseheft beweist: „Um den archaischen Aspekt dieser Geschichte im Zentrum zu halten, stellte ich die historischen und politischen Facetten in den Hintergrund und legte meinen Schwerpunkt auf das physische Erleben und Erleiden der Kinder.“

Nachvollziehbar wird diese Formulierung nur durch die Gegenprobe. „Um die deutsche Opfergeschichte nach Holocaust und 20 Millionen sowjetischen Kriegstoten überhaupt ins Zentrum stellen zu können, musste ich alle historischen und politischen Facetten ausblenden“, hätte Ostermann ja schlecht schreiben können. Das Presseheft ist überhaupt ein Fundus, vorsichtig gesprochen, putziger Statements.

Wer unter „Historischer Hintergrund“ textet, dass die deutschen Kinder und die litauischen Bauern („die beiden Völker“) sich 1946 gegen einen „gemeinsamen Feind durchsetzen mussten“, empfiehlt sich uneingeschränkt für das Sequel „Werwolfskinder – Jetzt wird wieder zurückgeschossen“. Wie impertinent es ist, sich den Segen für eine Geschichte, die Täter durch Aussparung zu Opfern umschminkt, bei einem Zitat über „Entwurzelung“ von der durch die Deutschen entwurzelten Simone Weil zu holen, dafür fehlen einem dann doch die Worte.

„Wolfskinder". Regie: Rick Ostermann. Mit Levin Liam, Helena Phil u. a. Deutschland 2013, 96 Min.

„Archaik“ entpuppt sich also als schmähliche Ausrede, weil größtmögliche Verallgemeinerung alles Menschlichen. Sie wird konzeptkunsthaft (kaum Dialog, kaum Plot), aber stilbewusst (farblich aufeinander abgestimmte Strickjacken) durchgezogen, und weil die Landschaften im Memelgebiet so schön sind, kommt am Ende ein empfindsamer Heimwehtourismuskatalog für Freunde des Fetischs „Landlust Extrem“ raus: Himmel, Wälder, Licht, aber Pferd und Geflügel werden roh verspeist.

Zurecht gestutzte Geschichte

Vorm Abgleiten ins Untermenschliche bewahrt tapfer die Literatur, Obereinfühlsamkeits-Hans hält sich in der ersten Aufblende des Filmes allen Ernstes an einem Buch fest.

Dieses deutsche Kino ist schon weird. Offen revisionistisch und komplett einfallslos, gefördert wird es trotzdem. Dabei könnte, wenn „Wolfskinder“ schon in Geschichte durchfällt, der Film doch wenigstens in Sport gut sein und die „Archaik“ mit ein wenig versorgungslogistischer Action aufbrezeln zu einem Rezivilisierungsthriller.

Stattdessen langweilt sich Ostermann mit seinen „Feel good, feel nicht so good“-Feelings selbst und spult am Ende den Hans durch Himmel, Wälder, Licht zur völlig spannungslosen Wiedervereinigung mit Bruder Fritzchen vor.

„Auf eine historische Verklärung der Opfer des Zweiten Weltkrieges wird deshalb ganz verzichtet“, schreibt Ostermann am Ende seiner „Anmerkung“. Und hat recht: Beschönigt wird bei den Tätern. Immerhin kann man an „Wolfskinder“ sehen, dass nicht viel übrig bleibt von einer Geschichte, wenn man den Großteil wegschneiden muss, weil er einem sonst die Botschaft madig machen würde.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.