Landwirtschaft in Sachsen: Auf freier Scholle

Die Zwangskollektivierung haben die Dörfer der Ex-DDR überstanden. Dafür fühlt sich jetzt niemand mehr an Grund und Boden gebunden.

Helmut Kinne: Landwirt im Ruhestand. Bild: Christoph Busse

NAUNHOF taz | Helmut Kinne schiebt mit der Hand die Ohrmuschel vor. Ob er sich an die Kollektivierung erinnert? Aber wie! „Ich hatte die Axt schon geschärft“, poltert er los. Alles anzünden wollte er, den ganzen Hof. „Stockwütend“ war er, weil die 23-Hektar-Wirtschaft 1968 mit allem in die LPG eingebracht werden musste. Helmut Kinne mit Eisen und Fackel als Kämpfer der Entrechteten? Bundeswehrbluse, kräftige Unterarme, Shorts und ein mächtiger Schnauzbart lassen keinen Zweifel – der Mann weiß sich zu wehren.

Doch er winkt ab. Nein, nein. Die Eltern haben sich wie alle hier in Fuchshain, einem Ortsteil der Gemeinde Naunhof südöstlich von Leipzig, der Zwangskollektivierung unterworfen und Boden, Geräte, Gebäude und Vieh der LPG vermacht – allerdings mit der Faust in der Tasche und Rachegelüsten im Kopf.

Gut, dass Kinne das Familieneigentum verschont hat. Er hat einen gepflegten Dreiseitenhof, Wohnhaus, Scheune, Stall. Efeu rankt. Aus dem Küchenfester zieht Rotkohlduft. Auf der Straße flimmert die Luft, es geht auf Mittag zu. Der Hausherr aber sitzt gegenüber im Büro der Fuchshainer Agrargesellschaft. Sie ist die LPG-Nachfolgerin, die Kinne nach der Wende mit aufgebaut hat und deren Geschäftsführer er viele Jahre war. Kinne, inzwischen 67 Jahre alt, ist Macher geblieben. Kein Rentner, ein Kommandeur steht da im Halbdunkel, und immer ein klares Wort auf der Zunge.

„Fuchshain ist nie zu einem Kolchosendorf heruntergewirtschaftet worden“, sagt er zufrieden und nimmt mit seiner Pranke die Brille von der Nase. Kolchose – das war das Schmähwort auf die neue Zeit. Es klang nach Besatzungsregime und Missgeburt – eine sowjetische Kollektivwirtschaft, geleitet von Parteiinstrukteuren und verwahrlost bis zur letzten Furche. So tief wie in Sowjetrussland sollten die Höfe in Fuchshain nie sinken.

In der Landwirtschaft existiert sie noch: die DDR. Gigantische Ackerflächen, riesige Monokulturen. Während im Westen die Betriebsflächen rund 55 Hektar betragen, sind sie im Osten fast sechsmal so groß. Verantwortlich ist die Politik. Das Instrument war die BVVG: ein Nachfolgeunternehmen der Treuhand, das die Ackerflächen der DDR privatisierte. Die konservierten Agrarstrukturen machen Ackerflächen nun für Aktiengesellschaften zu interessanten Anlageobjekten. Tausende Hektar sind schon aufgekauft worden. Experten sprechen angesichts der Konzentration bei wenigen Konzernen von einer „neofeudalen Landverteilung“.

„Vom Ich zum Wir“

Bereits 1960 war der Druck auf die Bauern enorm, erzählt Kinne. Sein Onkel, von Tuberkulose geschwächt, war der Erste in der Familie, der wankte. Als er aus dem Sanatorium zurückkehrte, drückte er Kinnes Vater ein Buch in die Hand. „Lies das! Es hat keinen Zweck mehr. Ich gehe in die LPG.“ Bei welcher Lektüre ließ er den Mut fahren? Marx? Lenin? Nein. Kinne hebt den Finger. „Neuland unterm Pflug von Michail Scholochow“. Der spätere sowjetische Nobelpreisträger schildert in dem Roman, wie ein Proletarier und ein Parteisekretär die Bauern in einem Kosakendorf in den Kolchos zwangen. Diese „Umgestaltung“ stand Fuchshain bevor.

Helmut Kinne war 22 Jahre alt, als die LPG die Ställe räumen ließ. „So richtig wehgetan hat es, als die Kühe rausgetrieben wurden.“ Es muss wie eine Verschleppung gewesen sein. „Vom Ich zum Wir“, lautete der Schlachtruf der SED – Begleitmusik zur faktischen Enteignung. „Der Hof war nicht mehr der eigene“, sagt Kinne knapp. Aus Bauern wurde Landproletariat, die LPG hieß „Neues Deutschland“.

Gut, dass der frühere Verwalter eines Rittergutes der erste LPG-Vorsitzende wurde. „Der hatte die Großraumwirtschaft von der Pike auf gelernt.“ Fuchshain hätte es schlechter treffen können. Kinne studiert Landwirtschaft und arbeitet bald selbst in der LPG, wird Ökonom. Der Rebell rückt in die Führung der LPG auf – ohne Parteiabzeichen am Revers. Kommunist sei er nie gewesen. Darauf legt Kinne großen Wert.

In eigener Hand

Großraumwirtschaft – das Wort geht Kinne ohne Gram über die Lippen. Er zieht eine Pappe vom Schrank, die alte Flurkarte von Fuchshain. Eine Dorfstraße, 40 Höfe zu beiden Seiten, dahinter die Handtuchfelder, die seit dem Ende der Dreifelderwirtschaft im 19. Jahrhundert die Flure prägten. Doch diese Grenzen sind seit zwei Generationen verschwunden. Ein Riese scheint über die Felder gegangen zu sein, hat aus Dutzenden Parzellen erst Dreißig-, dann Sechzig-, dann Achtzig-Hektar-Schläge geformt. Auf der Flurkarte mit ihrem Sütterlin lebt eine Welt fort, die draußen versunken ist – wie der Militär-, der Schützen- und der Gesangsverein, einstige Fuchshainer Kulturträger, deren Ablichtungen wie Ahnentafeln an den Wänden hängen.

Hat es da nicht wie eine Befreiung gewirkt, als 1990 die LPG aufgelöst wurde? „Ich war wie durch ’n Wind“, gesteht Kinne. Hoffung? Fehlanzeige. Die LPG hatte nicht nur die Feldmark geprägt, sie hat auch die Menschen verändert. Der Wunsch, endlich wieder das eigene Land zu bestellen, war nicht besonders groß. „Verpachtet ihr uns die Flächen?“, fragte Kinne. Die meisten nickten. 1.270 Hektar bewirtschaftet die Agrar-GmbH & Co. KG derzeit. „Wir haben alles noch in der eigenen Hand“, betont Kinne. Keine Investoren, keine Fremden. Gewinn und Pacht werden pünktlich gezahlt.

Auf der Straße schiebt Kinne den Efeu beiseite, der das Firmenschild zu überwuchern droht. Zwei Kuhköpfe blicken von der Tafel. Ja, Milch produziere man auch. Kinne frohlockt: „Wir könnten dieses Jahr auf die 10.000 Liter kommen.“ Pro Kuh – ein Spitzenwert. Nein, kein Hauch von Kolchosendorf.

Der Verkauf geht weiter

„Der Weizen steht ja exzellent“, murmelt Uwe Schirmer. Schirmer, verwaschenes Polohemd, ein kräftiger Dreiangel am Knie und Sandalen an den Füßen, steht am Feldrand, das Dorf Erdmannshain im Rücken, und lässt den Blick schweifen. Schirmer ist einer der Eigentümer, die an die Agrar-GmbH verpachtet haben. Sein Blick bleibt an einen Baum hängen, der wie ein Mahnmal aus dem Weizen ragt. „Schön, dass der noch steht.“ Ein letzter Zeuge dafür, dass die Landschaft einst andere Züge trug. „Ich habe noch gelernt, dass der ideale Schlag 150 bis 200 Hektar groß sein soll“, sagt Schirmer und zeigt auf den blassgelben Weizen. „Das hier sind etwa 60 Hektar.“ Für DDR-Verhältnisse ein Winzling. Schirmer, Jahrgang 1962, hat vor über 30 Jahren in der LPG gelernt. Als „Agrotechniker/Mechanisator“ – so bedeutsam klangen die Berufsbezeichnungen – ist er auf Traktor und Mähdrescher über die Felder gerollt. Seine Eltern, zuvor Einzelbauern, schufteten im Kuhstall.

Schirmers Generation sollte die „sozialistische Landwirtschaft“ ins neue Jahrtausend führen. Doch Uwe Schirmer hat die LPG 1987 verlassen. Heute ist er Professor für Thüringische Landesgeschichte an der Universität Jena. Ein Bauer ist er geblieben. Er wohnt auf dem Hof seiner Vorfahren. Eine Entscheidung, für die der Spezialist für Siedlungs-, Agrar- und Reformationsgeschichte die 120 Kilometer täglich bis nach Jena auf sich nimmt.

Langsam geht Schirmer über den Friedhof zurück ins Dorf. Mächtige Familiengräber erheben sich. Wie Patriarchen liegen die Bauern in Reihe. Wieder draußen, bleibt Schirmer an vergilbtem Rasen stehen, akkurat gemäht und trostlos wie ein Urnenfeld. „Hier war der LPG-Hof, wo auch mein Traktor stand“, sagt Schirmer. Nach der Wende wurde der Hof komplett abgerissen.

Schirmer beobachtet, wie die Bindung an die Höfe nachgelassen hat. Gestandene Bauern seien nach der Wende weich geworden, wenn ein Investor Geld versprach für Ackerland, um darauf Supermärkte, Reihenhaussiedlungen und Gewerbegebiete zu planen. Für Spottpreise ging das Land der Vorfahren über den Tisch. Das, was jahrzehntelang nichts wert war, wurde verhökert. Und der Verkauf geht weiter. Stirbt ein Eigentümer, besteht die Gefahr, dass die Erbengemeinschaft das Land verkauft, auch um Streit zu vermeiden. Wertewandel auf dem Dorf. Gesunde Tiere, fette Böden, solide Scheunen sind keine Währung mehr, die zieht.

Selbst ist der Bauer

Gibt es keine Bauern, die ihr Land selbst bewirtschaften? Doch. Dort drüben verkauft einer Kartoffeln. „In meinen Adern fließt grünes Blut“ – Jungbauer Stefan steht auf dem Pflaster und lacht. Sechs Hektar hat der Hof. 40 Enten, Kartoffeln, Bohnen, drei Reihen Mais, Getreide. Seine Familie gehört zu den wenigen, die ihr Land nicht an die Agrar-GmbH verpachtet haben. Selbst ist der Bauer.

Doch Leben kann man davon nicht, räumt der 42-Jährige sogleich ein. Und so arbeitet er tagsüber als Tischler, erst nach Feierabend wird er zum „Mondscheinbauern“. So hatte es Uwe Schirmer genannt. „Die einen gehen tauchen, reiten oder Fußball spielen. Ich mach Landwirtschaft!“, sagt er, als würde er über ein Hobby reden. „Was machen die Leute in der Stadt den ganzen Abend?“, sinniert er. Während er redet, sitzen die Altbauern im Schatten des Hauses, vor sich Kaffee, Wurst und Brot.

Und was hält er von der Großraumwirtschaft? „Die großen Betriebe verteufeln? Nee.“ Er lacht. „Es will ja gar keiner mehr unsere Arbeit machen.“ Das sei beim Gastwirt und beim Bäcker auch so. Die Großen könnten zumindest ihre Leute besser bezahlen. Ihn wurmt anderes. „Das, was mich so ärgert, ist, dass Land nur als Bauland geschätzt wird. Dass es das ganze Volk ernährt, das sieht keiner mehr.“

Ein sowjetischer Traktor

Als Stefan seine Landtechnik zeigt, verfliegt der Groll. Das neueste Stück ist ein sowjetischer Traktor Marke „Belarus“, der mit Grubber und Eggen mitten auf dem Hof steht. Hinten bei den Enten strahlt Stefan wieder. Ein freier Bauer auf freier Scholle.

Auf freier Scholle? Die Familie wurde auch unter den neuen Verhältnissen enteignet. Ein Stück der A 38, der Südumfahrung von Leipzig, führt über ihren Acker. Centbeträge hätten sie vom Staat als Entschädigung erhalten, schimpft Stefan. Und die Bodenverwertungs- und -verwaltungsgesellschaft, ein Unternehmen des Bundes, sei es, die gleichzeitig die Bodenpreise in schwindelerregende Höhe treibe. Mehr als 2 Euro pro Quadratmeter fordere sie für Ackerland! Unbezahlbar. „Verbrecher“, entfährt es Stefan, der – so bittet er zum Abschied – den Namen seiner Familie nicht in der Zeitung lesen will. Warum? Er lacht verlegen. Die Nachbarn könnten sich lustig machen – über die Krauterei, den alten Bulldog und das Pferd, das aus dem Fenster lugt. Kurzum, über die bäuerliche Landwirtschaft. So ein Leben scheint nicht mehr angesagt. Wie zur Illustration erzählt er, dass er an Wochenenden mit dem Einspänner übers Land kutschiert.

Es gibt inzwischen moderne Ideen im Dorf. Im Haus gegenüber hat eine Katzenpension eröffnet. Einen Hundefriseur gibt es schon.

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