Allein unter Vögeln: Der Aussteiger

Reinhart Brandau hat alles hinter sich gelassen: seinen Job, seine Kunst – und auch die Menschen. Er redet lieber mit den Vögeln.

Auf Augenhöhe lebt Reinhart Brandau mit Vögeln aller Art Bild: Simone Schnase

WORPSWEDE taz | Reinhart Brandau hat eine beschissene Wohnung. Auf dem Fußboden, an den Wänden, auf dem Telefon, auf den Schränken – überall klebt Vogelscheiße. Obwohl nur eine Tür sein Arbeitszimmer vom wunderschönen, bewaldeten Garten der Worpsweder Mackensen-Villa trennt, in deren hinterem Teil Brandau lebt, raubt es einem beim Eintreten den Atem: Es ist stickig, stinkig und dreckig, die dunkelbraunen Spinnweben und Staubmäuse erzählen unter der Heizung und in den Ecken viele Geschichten aus vielen Jahren. „Ich müsste mal wieder aufräumen“, sagt mit einem schelmischen Lächeln der Gastgeber.

Dabei kommt das „Vogelzimmer“ erst noch, der Raum, wo Brandaus Pflegevögel vorwiegend leben. „Zeitweise hatte ich hier vierzig Stück auf einmal“, erzählt er – und deren Hinterlassenschaften, so scheint‘s, sind noch nie entfernt worden. Der reich verzierte, alte Bauernschrank im Vogelzimmer: von oben bis unten vollgeschissen. Eine Staffelei mit einem Aquarell von Brandau, das Cover seines vorletzten Romans: vollgeschissen. Fenster, Fußboden, Tisch: alles voll mit frischem und verkrusteten, scharf riechendem Vogelkot.

Wenigstens auf sich selbst scheint der 77-Jährige zu achten: Seine langen Haare und sein Bart wirken ebenso frisch gewaschen wie seine Klamotten, deren Funktion er in den höchsten Tönen lobt: „Diese Hemden halten ewig! Und die vielen Taschen sind so praktisch!“ Er kauft immer die gleichen Sachen, näht sie unzählige Male, flickt sie mit bunten Stoffen, solange, bis es nicht mehr geht. Aber auch dann kommen sie nicht in den Müll, sondern an die Wand: „Das ist Klamotten-Kunst“, sagt Brandau über seine Patchwork-Werke. Und diese Kunst ist, natürlich, ebenfalls vollgeschissen.

Eine unstillbare Sehnsucht

Reinhart Brandau ist das, was man wohl einen klassischen Aussteiger nennt. Wie das kam, erzählt er in seiner vierteiligen Biografie, erschienen im Selbstverlag oder, wie es auf dem Cover heißt, bei „Bird Books Worpswede“. Er schreibt teils sehr charmant und humorvoll über seine Kindheit, wo er im Keller seiner Großeltern zwischen Äpfeln, Kartoffeln und eingemachten Mirabellen die Bombenangriffe auf Hamburg erlebte. Von den Umzügen nach Bremen und nach England, wo er einen Teil seiner Jugend verbrachte.

Aber auch von seinem Beruf als Flugzeugbauer, seiner Unzufriedenheit und seiner Sehnsucht nach einem anderen Leben, die ihn nach vielen Jahren der Wanderschaft schließlich nach Worpswede führte. Lange Jahre verdiente er sein Geld als Silberschmied, fing an zu malen, widmete sich der Bildhauerei – und über allem flogen von Anfang an die Vögel.

„Schon meine Mutter zog elternlose Vögel groß“, erzählt Brandau. Mit ihnen, aber auch mit Elfen und anderen Wesen aus seiner Phantasiewelt sprach er als Kind lieber als mit seinen Mitmenschen, „und zum großen Teil ist das bis heute so geblieben“, sagt er. Zumindest die Nähe zu den Vögeln: Äußerst sozial seien die, niemals berechnend und egoistisch, „sie sind einfach da und richten keinen Schaden an.“ Und sie sind laut Brandau in der Lage, mit Menschen zu kommunizieren – zumindest mit ihm. Das hat er vor gut 35 Jahren festgestellt, durch eine Nebelkrähe namens Mecki.

Freunde auf Augenhöhe

Gemeinsam mit einer Freundin nahm sich Reinhart Brandau damals des wenige Wochen alten Vogels an, der aus dem Nest gefallen war. Ihm lasen sie wie einem Kind zum Einschlafen Wilhelm-Busch-Gedichte vor oder sangen Lieder, teilten Mittagessen und Bett. Vier Jahre lang flog Mecki bei Brandau ein und aus, bis seine Besuche immer unregelmäßiger wurden und schließlich ganz ausblieben. Bis dahin aber war er ein Familienmitglied, half sogar bei der Pflege all der anderen Vögel, die Brandau beherbergte. „Wir waren Freunde“, sagt er, „und zwar auf Augenhöhe.“

Damals habe er gelernt, nicht nur Lebensgewohnheiten, Bedürfnisse und angeborene Verhaltensweisen der Vögel zu begreifen, „sondern ich habe ihre Seelen kennengelernt und gemerkt, dass jedes Tier ein Individuum ist“. Und er ist sich sicher: „Die Vögel verstehen mich ebenfalls.“ Zumindest die meisten, denn wie das so ist mit Individuen, gab es auch in Brandaus Leben Vögel, die ihn nicht mochten: „Zum Beispiel ein Bussard mit einem gebrochenen Bein. Der wurde dann von einer Freundin versorgt, weil sich zwischen ihm und mir einfach kein Vertrauen aufgebaut hat.“

Die Erlebnisse mit all dem Federvieh, das Brandau großgezogen, aufgepäppelt, medizinisch versorgt oder auch einfach nur kennengelernt hat, hält er akribisch fest: 36 „Brandau Birds Life“-Videos gibt es mittlerweile auf Youtube, in schmalen, zweisprachigen Büchlein auf Deutsch und Englisch mit Titeln wie „Vogelkind“, „Schwalbensommer“ oder „Da draußen vor der Tür“ hat er außerdem Vogel-Fotos, Anekdoten, Gedichte und Gedanken über sein Leben mit den Vögeln veröffentlicht. „Der Vogelflüsterer“ wird Brandau mittlerweile nicht nur in Worpswede und im Umland genannt,Tierärzte und MitarbeiterInnen der Station für Wildtier-Vögel in Soltau geben ihm regelmäßig Tiere in Obhut.

Dass er so gut wie alle dieser geschwächten, verletzten oder kranken Existenzen durchbringt, liegt laut Brandau an seinem besonderen Verhältnis zu ihnen: „In dem Moment, in dem ich mit den Vögeln spreche, bin ich kein Mensch mehr“, sagt er. Beobachtet man ihn im Zwiegespräch mit dem Krähenjungen, das er gerade füttert, glaubt man ihm – zumindest scheint er dann für kurze Zeit in einer anderen Welt zu leben.

Alles an den Nagel gehängt

Brandau hat nach und nach alles an den Nagel gehängt, seinen Job als Goldschmied, seine Malerei, seine Bildhauerei. Er lebt mehr schlecht als recht von einer kleinen Erbschaft und von gelegentlichen Spenden oder Bücherverkäufen. Schlaf bekommt er wenig, denn wenn er sich nicht um seine Vögel kümmern muss – nur zwei versorgt er zur Zeit – schreibt er, und zwar ein Buch nach dem anderen. Kaum war sein letzter Gedichtband fertig, erschien sein Roman „Jenseits der Flammen“ und kurz darauf dessen Fortsetzung „Eine unendliche Reise“. Vier Brandau-Bände sind allein im vergangenen Jahr erschienen.

Das Tempo merkt man den Geschichten an, die immer Slalom fahren zwischen Wirklichkeit und Fantasie, zwischen Geschichten und Gedichten, die viele Zeitsprünge machen und ausnahmslos die bessere Welt im Tierreich und in der Natur finden. Sein nächstes Buch ist gerade fertig geworden, „Seele finden“ heißt es und handelt vor dem Hintergrund der Weltmeisterschaft teils von Fußball als seelenlosem Geschäft und teils von – natürlich – Vögeln.

Brandau nennt den Text sein wichtigstes Werk. Es geht um Geld, um Umweltverschmutzung und um Terrorismus, so wie er ihn versteht: „Terrorismus, das sind Schleppnetze, die unvorstellbare Schäden anrichten, Tod bringen und ganze Arten ausrotten – nicht ein paar Bomben, die Gebäude zerstören oder Menschen töten.“ Denn Menschen seien schließlich nicht vom Aussterben bedroht.

Lästige Verleger

Am liebsten, so scheint es, wäre Reinhart Brandau selbst ein Vogel. Oder doch zumindest so ungebunden. Obwohl sich sein „Tagebuch einer Singdrossel“ bei Bertelsmann vor 20 Jahren sehr gut verkauft hat, will er seither nichts mehr mit Verlegern zu tun haben. Das raube Zeit und beschneide ihn in seiner Freiheit – wer ein Buch möchte, soll sich halt mit ihm in Verbindung setzen.

Aber er ist kein Vogel. Er muss Miete zahlen und sein Essen und seine Kleidung – und selbst seine besten Freunde strengen ihn hin und wieder an: „Wenn mir wieder jemand einen Vogel bringt, kann ich einfach nicht nein sagen – aber ich wäre sehr gerne eine Zeit lang im wahrsten Sinne des Wortes vogelfrei“, sagt er, denn: „Ich müsste mal wieder aufräumen.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.