Nachrichten von 1914 - 17. Juli: Die schirmlosen Berlinerinnen

Nach Handschuhen und Hüten droht nun auch der Sonnenschirm aus der Damenmode zu verschwinden. Schuld dürfte auch der Aufstieg der Handtasche sein.

Nicht nur der Sonnenschirm fehlt: Berliner Frauen 1914. Bild: europeana1914-1918.eu: Andreas Bruehl, CC-BY-SA

Bei den Dessous fing der große Umsturz in der Damenkleidung an; progressiv verbreitete er sich dann auf die Hände, für die es nicht mehr als unehrenhaft galt, sich unbeschuht in der Öffentlichkeit zu zeigen, und schließlich stieg die Revolution bis auf den Kopf der Dame und fegte ihr den Hut von der Frisur, die nun unter Licht und Sonne und nicht mehr ausschließlich unter dem Brenneisen erblühte. Jetzt ist die äußerste Konsequenz der unbehuteten Mode eingetreten: der Sonnenschirm, das altvertraute Zepter weiblicher Anmut und Würde, und die ultima ratio im äußersten Notfall, wenn alle andern Waffen nichts mehr fruchten, ist gefallen. Er ist aus der Mode und aus der Gunst der Damen gekommen.

Seine aufgeblähte Herrlichkeit ist zusammengeklappt, er ist in das Dunkel des Kleiderschrankes getaucht und träumt hier in einsamer Ecke von der sonnendurchglühten Heiterkeit vergangener Tage, da sein Stiel in schönen Händen kokett balanciert und sein Dach zarte Gesichter behütete, damit kein zudringlicher Strahl aus Helios frechem Antlitz auf sie fiele.

Was ist Schönheit? Hundertmal hat man den Gazekescher über den schillernden Schmetterling gestürzt und wenn man zusah, war er doch nicht drin sondern flatterte drüber hinweg. Und man begnügte sich mit der Feststellung, dass die Schönheit ein ewig sich wandelnder Begriff sei, heute dies und morgen jenes bedeute. Der Sonnenschirm und alles, was an ihn sich knüpft, ist ein Schwurzeuge für diese Theorie. Und als ich neulich an einem Schrank vorüberging, in dem ein weißer, ein roter und ein grüner Sonnenschirm trauern, hörte ich ein Lispeln und Raunen hervordringen, und als ich mein Ohr an das Schlüsselloch legte, vernahm ich deutlich, wie der weiße Sonnenschirm zu seinen Kameradinnen mit verbitterter Ironie sprach: „Ja, so sind die Herrinnen, denen wir zu dienen berufen und willig sind. Früher konnte der Teint der Damen nicht weiß und zart genug sein.

Da legten sie sich nachts Schnitten aus der Keule eines frischgeschlachteten, vier Wochen alten Kalbes auf die Wangen und banden sie fest mit Binden und Bandagen, damit sie nicht verrutschten, sondern die Haut so zart und weich machten wie feuchtes Seidenpapier.“ „Und die Ströme der Benzoetinktur, die früher des Morgens und Abends zur Toilette benötigt wurden!“ fiel der rote ein; „es sollte mich nicht wundern, wenn jetzt auf dem Weltmarkt eine furchtbare Baisse in „Jungfrauenmilch“ sich bemerkbar macht.“

Aera online ist die Simulation einer Live-Berichterstattung aus dem Jahr 1914. Das Magazin veröffentlicht Nachrichten, die auf den Tag genau vor hundert Jahren von den Menschen in Deutschland in ihren Zeitungen gelesen wurden. Drei historische Zeitungen wurden aus den Archiven gehoben und ausgewertet. Die Texte sind im Wortlaut erhalten, Überschriften und Kurz-Zusammenfassungen wurden teilweise modernen Lesegewohnheiten angepasst.

Das Projekt ist eine Kooperation der zero one film und der Leuphana Universität Lüneburg. taz.de kooperiert mit dem Magazin und veröffentlicht jeden Tag ausgewählte Nachrichten von 1914. Das gesamte aera online Magazin finden Sie hier.

Von den Damen gebraucht wie das tägliche Brot

Jetzt unterschied ich auch das schwärmerische Stimmchen des grünen Sonnenschirmes: „O, erinnert ihr euch noch der seligen Zeiten, als die Kaiserin Poppäa, wenn sie in die Campagna zog, tausend und soviel Eselinnen in ihrem Trosse mit sich führte und mit deren seimigem Nährsaft sich wusch, um weiß wie Milch und rosig wie eine Blüte auszusehen? Dort, dort liegt unsere große Vergangenheit. Damals hatten unsere Ahnen ein Format, dem gegenüber wir nur Epigonen und Degenerierte sind. Damals wurden wir von den Damen gebraucht wie das tägliche Brot.“ „Das kommt aber daher, resümierte der kluge, weiße Schirm, dass andere Zeiten andere Moden bringen. Nicht der bleiche, an die Farbe der Kellerschößlinge erinnernde Teint ist jetzt beliebt, sondern der leicht angebräunte aus den ersten Stadien vor der totalen Verbranntheit. Jener glänzende goldige Reif, der das Gesicht so leicht überfliegt wie ein liebreizendes Erröten. Und alles was recht ist, diese neue Teintmode steht gar vielen nicht übel.“

So raunen untereinander die Schirme. Aber auch die Stimme eines Kaufmanns hörten wir, der sich zur Lebensaufgabe gesetzt hat, die Damen mit recht vielen und schönen Sonnenschirmen zu beglücken. Und er sagte: Seit sechs Jahren ist ein ständiger Rückgang in der Produktion der Sonnenschirme zu verzeichnen, und er hat in diesem Jahre seine höchste Ziffer erreicht. Gegen früher ist der Verbrauch an Sonnenschirmen um 25 Prozent geringer geworden, und er wird für die nächste Zeit sicherlich noch mehr zusammenschrumpfen.

Um uns noch Absatz zu verschaffen, müssen wir uns eifriger als je bemühen, Neuheiten auf den Markt zu bringen, die überraschen und Käufer anlocken. So waren der nach außen und nach innen gerichtete Glockenschirm und der Klappschirm für das Automobil Schlager, die gezogen haben. Schuld an dem Aussterben des Sonnenschirmes hat unzweifelhaft auch die Mode der Handtaschen. Diese machen eine Hand unfrei, und da die Damen auf ihren Gängen doch wenigstens eine Hand frei zur Verfügung haben müssen, entlasten sie sich vom Sonnenschirm. Aber die Hauptursache liegt doch in dem Wechsel der Mode und in der Formation des neuen und allerneusten Menschen!

Quelle: Berliner Tagblatt

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