Netzpublizist über Zensur in der Türkei: „Es kann jeden treffen“

Früher ging es um den Schutz des Türkentums. Heute geht es um Verunglimpfung der Religion, sagt Sedat Kapanoğlu, Gründer der beliebten Website Ekşi Sözlük.

Mit Zensur und Tränengas vernebelt der türkische Staat den Blick auf die Realität. Bild: dpa

sonntaz: Herr Kapanoğlu, Sie wurden wegen „Verunglimpfung religiöser Werte“ zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Was genau haben Sie eigentlich geschrieben?

Sedat Kapanoğlu: Das kann ich nicht sagen, sonst würde ich mich der Wiederholung einer Straftat schuldig machen und Gefängnis riskieren. Das geht den anderen genauso. Mit mir waren 40 Autoren von Ekşi Sözlük angeklagt, alle aus demselben Grund. Einer hat wie ich eine Bewährungsstrafe bekommen, bei den anderen wurde der Prozess ausgesetzt.

Der Paragraph 216 des Türkischen Strafgesetzbuches, nach dem Sie verurteilt wurden, stellt Volksverhetzung unter Strafe. Ist diese Regelung so falsch?

Dieser Paragraph verbietet aber nicht Kritik an Religion, sondern Aussagen, die dazu geeignet sind, den öffentlichen Frieden zu stören. Das kann man uns nicht vorwerfen. Ich kann meine Beiträge in Ekşi Sözlük nicht wiederholen, aber glauben Sie mir: Es waren keine herabwürdigende Formulierungen. Ich habe mich auch nicht wie der frühere Europaminister über den Islam belustigt.

Von diesem Minister, Egemen Bağış, wurde ein aufgezeichnetes Telefongespräch veröffentlicht, in dem er sich über Koransuren lustig machte, die er damals täglich twitterte.

Ja. Wir haben in unserem Einspruch gegen das Urteil auch darauf verwiesen. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt, weil es hieß, seine Aussagen würden nicht den öffentlichen Frieden gefährden. Bei meinen Beiträgen ging es nicht einmal um den Islam, sondern um Religion und Gottesvorstellungen allgemein – Gedanken, die andere Leute schon vor mir formuliert haben. Das Verfahren wurde erst im vergangen Jahr eröffnet. Aber die fraglichen Beiträge sind alt, aus 2007 oder gar aus 2004.

Was hat sich seither in der Türkei geändert?

Damals gab es Anklagen wegen „Verunglimpfung des Türkentums“ nach dem berüchtigten Artikel 301. An dessen Stelle tritt nun die „Verunglimpfung religiöser Werte“. Wir Ekşi-Sözlük-Autoren sind ja nicht die ersten, denen deshalb der Prozess gemacht wurde. Vor uns wurde Fazil Say zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, Sevan Nisanyan sitzt deswegen in Haft. Die Methoden sind ähnlich wie früher. Aber die Perspektive des Staates hat sich geändert: Jetzt steht die Religion im Mittelpunkt.

37, ist Informatiker und Betreiber der Seite Eksi Sözlük. Schon als Kind fing er an zu programmieren und studierte später Informatik, brach aber vor dem Abschluss ab. Die Website betrieb er zunächst als Hobby und arbeitete einige Jahre bei Microsoft in Seattle. Seit Eksi Sözlük ein profitables Unternehmen ist, ist er Co-Geschäftsführer der Betreiberfirma.

Der Pianist Say wurde wegen eines Tweets angeklagt, der türkisch-armenische Autor Nisanyan wegen eines Blogbeitrags, Sie wegen Beiträgen in einem sozialen Netzwerk. Ein Zufall?

Ich glaube nicht. Denn in den letzten Jahren hat sich noch etwas geändert: Früher wurden bekannte Intellektuelle wie Orhan Pamuk oder Hrant Dink angeklagt. Heute geht es nicht nur gegen Meinungsführer. Ich zum Beispiel bin kein Prominenter, sondern nur ein Internetunternehmer und als Autor von Ekşi Sözlük einer von vielen. Nach den Gezi-Protesten wurden in Izmir junge Leute wegen ihrer Tweets angeklagt. Und erst in der vorigen Woche wurde der Twitter-User mit dem Nickname „Allah CC“ zu 15 Monaten Haft verurteilt – auch er nach Paragraph 216, also wegen „Verunglimpfung religiöser Werte“. All das zeigt: Heute kann es jeden treffen. Niemand kann sich sicher sein, welche Aussage verfolgt wird.

Was sind die Folgen?

Alle sind verängstigt. Mit Verfahren wie dem gegen uns wird der Druck auf die die ganze Gesellschaft ausgeweitet. Ich werde mir in den nächsten fünf Jahren, solange meine Bewährung läuft, sehr genau überlegen, was ich schreibe. Und die Medien sind sowieso verängstigt.

Die Geschichte: Eksi Sözlük („Das saure Lexikon“) ist eine der beliebtesten Webseiten der Türkei. Die Seite wurde 1999 gegründet und ist eine der ältesten noch aktiven sozialen Netzwerke der Welt. Derzeit hat die Seite 400.000 registrierte User und rund 22 Millionen Beiträge.

Die Inhalte: Eksi Sözlük enthält Themen, die auch Wikipedia behandelt oder behandeln könnte. Und viele mehr: „Atheisten, die beim Sex ,oh mein Gott' sagen“ oder „Zeiten, als man Besuchern Zigaretten anbot“. Relevant ist, was ein User relevant findet.

Die Funktion: Die Artikel werden wie bei einem Thread in einem Onlineforum von verschiedenen Usern fortlaufend ergänzt. Dazu wird angezeigt, welche Themen aktuelle Einträge enthalten und zu welchen am Tag die meisten Einträge verfasst wurden. Bei Anlässen wie dem Beginn der Gezi-Proteste funktioniert die Seite als Informationsquelle.

Die Idee: Inspirieren ließ sich Gründer, Sedat Kapanoğlu, von Douglas Adams' Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“: ein anarchisches Nachschlagewerk, unterhaltsam, informativ und cool.

Aber haben die Medien nicht auf die Kritik reagiert, die bei den Gezi-Protesten an ihnen formuliert wurden?

Das hat nur kurz gewährt. Ich habe den Eindruck, dass die Medien seither noch mehr eingeschüchtert sind.

Und die sozialen Medien? Hat Ihr Prozess die Autoren von Ekşi Sözlük verängstigt?

Bestimmt. Aber es geht nicht nur um Ekşi Sözlük, sondern um die Meinungsfreiheit. Abgesehen von den Zeiten der Militärjuntas erlebt die Türkei gerade die düsterste Zeit der vergangenen Jahrzehnte. So viele Journalisten waren noch nie in Haft. Und es gibt viel weniger Toleranz als früher. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan klagt immer wieder gegen Karikaturisten, die ihn beleidigt hätten. Sein Vorgänger Turgut Özal wurde in den achtziger Jahren genauso karikiert, aber er hat deswegen niemanden angezeigt. In der Summe haben wir es mit einer rechtswidrigen, aber systematischen Zensur zu tun.

Ein harter Vorwurf.

Ja, aber das ist das Ziel der staatlichen Maßnahmen: Der Staat will, dass selbst einfache Leute, die sich auf Twitter oder auf Ekşi Sözlük äußern, keine Gedanken formulieren, die ihm nicht passen – egal wie sachlich und frei von Herabsetzung diese Gedanken formuliert sind.

Wie kommt die Staatsanwaltschaft eigentlich an die IP-Adressen der anderen Ekşi-Sözlük-User heran?

Ekşi Sözlük funktioniert ähnlich wie Twitter. Wir üben keine redaktionelle Kontrolle aus – bei uns schreiben Menschen mit unterschiedlichen politischen Meinungen. Und solange das, was sie schreiben, nicht strafbar ist, mischen wir uns nicht ein. Aber anders als Twitter oder Facebook sind wir ein in der Türkei registriertes Unternehmen. Wenn die Ermittlungsbehörden nachfragen, müssen wir die Adressen herausrücken. Sonst würden wir uns strafbar machen. Und man würde die ganze Seite schließen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.