Kommentar Boko Haram in Nigeria: Brutale Facette eines Machtkampfs

Boko Haram ist keine durchgeknallte Sekte, die Mädchen reißt. Sie ist eine hochgerüstete Armee. Und Nigerias Politik trägt eine Mitschuld an der Eskalation.

Es ist wichtig, dass die Weltgemeinschaft sich über Nigeria endlich einmal Gedanken macht. Nigerianerin in Abuja. Bild: ap

Endlich stößt die Krise in Nigeria auf die internationale Aufmerksamkeit, die sie verdient. Tausende von Toten und ein blutiger Bürgerkrieg im Nordosten des Landes sorgten bislang außerhalb Nigerias kaum für Schlagzeilen. Die Entführung mehrerer hundert Schulmädchen durch die islamistische Untergrundarmee Boko Haram hat hingegen eine breite internationale Solidaritätskampagne ins Leben gerufen.

Und obwohl solche Online-Kampagnen durch die dadurch erzwungene Vereinfachung des Blickes und das daraus entstehende simple Gut-Böse-Denken immer grundsätzlich fragwürdig sind, ist es wichtiger, dass die Weltgemeinschaft sich über dieses 170-Millionen-Einwohner-Land endlich einmal Gedanken macht.

Das allerdings darf nicht dazu führen, die Lage in Nigeria so komplett misszuverstehen, dass die Lösungsversuche keine mehr sind. Glaubt man manchen Mediendarstellungen, ist Boko Haram eine durchgeknallte Sekte rückständiger Bildungsverweigerer, die ab und zu aus ihren Höhlen in der Wüste kriechen, Bomben schmeißen und jetzt eben auch Mädchen reißen.

In Wahrheit ist Boko Haram eine hochgerüstete, professionell organisierte und auftretende Armee, die Nigerias Militär immer wieder in Schach hält. Ohne mächtige Gönner in der traditionell skrupellosen und intriganten nigerianischen Politik und möglicherweise auch im Militär selbst könnte Boko Haram nicht existieren.

Viele der Demonstranten, die jetzt täglich in der Hauptstadt Abuja auf die Straße gehen, hegen großes Misstrauen gegen den eigenen Staat und der mutmaßlichen Rolle einzelner politischer Akteure. Regelmäßige Übergriffe der Sicherheitskräfte bei der Jagd auf die Islamisten, angefangen mit Hunderten zivilen Opfern bei der Erstürmung ihres städtischen Hauptquartiers vor fünf Jahren, sind für Boko Haram auch ein Mobilisierungsfaktor unter Teilen der Bevölkerung Nordostnigerias.

Anzeichen für einen regionalen Konflikt

Dazu kommt die regionale Dimension. Welche Rolle Boko Haram in den transsaharischen Schmuggelwegen für Waffen und Kämpfer spielt, die sich längst von Libyen bis Mali und Zentralafrika erstrecken, ist nicht bekannt, aber sicherlich ist auch das ein wichtiger Faktor. Und falls nach den genozidalen Pogromen gegen die Muslime in der Zentralafrikanischen Republik versprengte muslimische Rebellen aus Zentralafrika neue Verbündete finden, um Rache für die Tausenden Toten und die Hunderttausenden Vertriebenen in ihrer Heimat zu suchen, wäre der Krieg Boko Harams ganz schnell ein regionaler Konflikt. Anzeichen dafür gibt es in Kamerun bereits.

Angesichts all dessen ist die Idee, Boko Haram lasse sich durch Stärkung der nigerianischen Streitkräfte eliminieren, zu kurz gegriffen. Wenn nun also die USA, Großbritannien und Frankreich Expertenteams, Militärberater und möglicherweise auch insgeheim Spezialkräfte nach Nigeria schicken, um Boko Haram zu jagen, ist schon jetzt klar, dass das an sich wenig bringen wird.

Muss dann also als nächster Schritt eine lang anhaltende grenzüberschreitende Militärkampagne folgen? Die vergebliche, sehr mühsame und ziemlich kostspielige regionale Jagd auf den ugandischen Warlord Joseph Kony und seine mysteriöse Lord's Resistance Army (LRA) in Kongo, der Zentralafrikanischen Republik und Südsudan sollte da eine Mahnung sein. Nigeria kann sich keine zweite LRA leisten.

Vieles deutet darauf hin, dass die Boko-Haram-Krise vor Nigerias Wahlen 2015 nicht zu lösen sein wird. Mit großer Wahrscheinlichkeit dürfte sie, politisch gesteuert, bis dahin weiter eskalieren – als eine besonders öffentliche, unappetitliche und brutale Facette des innenpolitischen Machtkampfs in Nigeria. Dann aber liegt der Schlüssel zur Lösung nicht in den Savannen und Bergwäldern Nordostnigerias, sondern mitten in den Schaltstellen der Macht. Mal sehen, ob einer der ausländischen Partner Nigerias sich das zu sagen traut.

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