Kommentar Justiz in Ägypten: Alltag Todesstrafe

Die ägyptische Justiz fällt nicht nur gnadenlose Urteile, sie versagt auch gnadenlos – und kompromittiert sich als Racheengel gegen Muslimbrüder.

Nach der Urteilsverkündung vor dem Gericht in Minya. Bild: ap

Massenhafte Todesurteile scheinen in Ägypten zum Alltag vor Gericht zu werden. Nach nur zwei Prozesstagen und praktisch ohne Beweisaufnahme verurteilte am Montag ein ägyptischer Richter 632 Menschen zum Tode, darunter Mohammed Badie, das Oberhaupt der Muslimbruderschaft.

Derselbe Richter hatte bereits am 24. März in einem anderen Schnellverfahren 529 Angeklagte zum Tod durch Erhängen verurteilt. Auch wenn er jetzt nur 37 dieser im ersten Verfahren ausgesprochenen Todesurteile bestätigt und die übrigen in „lebenslänglich“ umgewandelt hat: In beiden Prozessen wurden die Angeklagten für schuldig befunden, Polizisten angegriffen und zur Gewalt aufgerufen zu haben. Sie sollen mit anderen eine Polizeistation im südlichen Oberägypten erstürmt haben am 14. August vergangenen Jahres, als Polizei und Militär Protestlager der Muslimbrüder und der Putschgegner in Kairo brutal aufgelöst hatten.

Eigentlich gehört die ägyptische Justiz selbst auf die Anklagebank. Denn sie ist auf dem Auge der Herrscher und des Sicherheitsapparats vollkommen blind. So hat sich bis heute kein Gericht mit der blutigen Auflösung der Protestlager beschäftigt, die die Randale in Oberägypten erst ausgelöst hatte. Dabei kamen nach offiziellen Angaben 623, nach anderen Berichten aber weit über tausend Menschen ums Leben. Auch für die 840 Toten des Aufstands gegen Mubarak wurde niemand zur Rechenschaft gezogen.

Auf der anderen Seite werden die Aktivisten des Tahrirplatzes wegen Verstoßes gegen das restriktive Demonstrationsgesetz verurteilt. Journalisten kommen aufgrund ihrer Kontakte zur Muslimbruderschaft wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vor Gericht. Studenten werden nach gewalttätigen Auseinandersetzungen an der Universität für 17 Jahre ins Gefängnis geschickt.

Urteile als Botschaften

Auch wenn manche der Urteile in Berufungsverfahren abgemildert wurden, und Gleiches auch für die jetzt ausgesprochenen Todesurteile zu erwarten ist: Der Imageschaden ist enorm, wenn die Justiz die erste Instanz dazu verwendet, politische Botschaften zu verschicken, bevor in der zweiten vielleicht so etwas wie ein rechtsstaatlicher Prozess beginnt.

Es wäre aber zu einfach zu glauben, die ägyptischen Richter bekämen einen Anruf von oben, der ihnen das Urteil diktiert. Schon zu Mubaraks Zeiten war die Dynamik kompliziert. Das Regime konnte die Schlüsselpositionen besetzen, wie die des obersten Verfassungsrichters oder den obersten Staatsanwalts. Trotzdem fällten die Richter immer wieder Urteile, die gar nicht nach dem Geschmack des Regimes waren. Nicht selten kam es zu Freisprüchen, weil die Geständnisse nach Ansicht der Gerichte durch Folter zustande gekommen und damit gerichtlich nicht verwertbar waren. Diese „Unzuverlässigkeit“ der Justiz war einer der Gründe, warum das Mubarak-Regime die Militärgerichtsbarkeit gegen Zivilisten ausbaute, um dort die gewünschten Urteile zu erhalten.

2006 gingen reformorientierte Richter sogar auf die Straße, um gegen massiven Betrug bei den Wahlen zu protestieren, die sie zu beaufsichtigen hatten. Fünf Jahre vor dem Aufstand bildeten sie gewissermaßen die Vorhut der Proteste gegen das Regime. Aber die Mehrheit der Richter passte sich an, sprach in einer autokratischen Umgebung mal Recht und mal Unrecht, immer in der Hoffnung, nicht anzuecken.

Hort des alten Regimes

Nach dem Sturz Mubaraks blieb die Justiz unangetastet. Der oberste Staatsanwalt blieb zunächst im Amt. Auch das Innenministerium, zuständig für Untersuchungen und Beweisaufnahme, erwies sich als Hort des alten Regimes. Unter dem aus den Muslimbrüdern stammenden Präsidenten Mohammed Mursi kam es dann zur Konfrontation.

Mursi warf der Justiz vor, ein Restposten des Mubarak-Regimes zu sein. Die Richter hielten Mursi vor, die Justiz mit Muslimbrüdern unterwandern zu wollen. Das Verfassungsgericht löste anschließend mit einer formalen Begründung das gewählte Parlament auf, in dem die Muslimbrüder die Mehrheit hatten. Die Muslimbrüder sprachen von einem Justizputsch – nicht ahnend, dass ein echter Militärputsch noch folgen sollte.

Die Justiz als Racheengel

Zum endgültigen Bruch kam es im November 2012, als Mursi ein Präsidentendekret erließ, in dem er seine Entscheidungen als von der Gerichtsbarkeit immun erklärte. Die Richterschaft ging auf die Barrikaden, die Justiz wurde neben der Armee zur Schlüsselinstitution, die den Sturz Mursis betrieb. Aber es gab auch Widerspruch. 75 Richter, die Mursis Absetzung kritisierten, wurden vom einflussreichen Richterverein suspendiert.

In der neuen Verfassung des Landes bildet die Justiz nun einen geschlossenen Kreis. Scheidet ein Richter beim Verfassungsgericht aus, dürfen seine Kollegen einen Nachfolger wählen. Die Richter wählen den obersten Staatsanwalt, und die Richterschaft muss neuen Gesetzen zur Regelung der Justiz zustimmen, bevor sie dem Parlament vorgelegt werden können. Was wie eine perfekte Unabhängigkeit erscheint, birgt die Gefahr, dass die Justiz von allen gesellschaftlichen und politischen Prozessen isoliert wird. Als eigene Kaste hat sie damit jeglichem Reformversuch von außen einen Riegel vorgeschoben.

Statt sich zu reformieren, kompromittiert sich die ägyptische Justiz als Racheengel gegen die Muslimbruderschaft. Dabei sehen sich die Richter nicht so sehr als Erfüllungsgehilfen eines Regimes. Sie sehen sich vielmehr als Beschützer eines Staates, der durch eine internationale Verschwörung unter Einschluss der Muslimbruderschaft gefährdet wird.

Die Justiz hat sich auf eine Seite geschlagen, obwohl gerade sie in einer politisch polarisierten Lage als neutraler Rechtssprecher fungieren müsste. Es hätte der Testfall sein können, an dem das Rechtswesen seine Professionalität und Unabhängigkeit unter Beweis stellt. Ägyptens Justitia fällt stattdessen nicht nur gnadenlose Urteile, sie versagt auch gnadenlos. Der Ausfall der dritten Gewalt ist ein Verhängnis, dessen Preis am Ende alle Ägypter zahlen werden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Karim El-Gawhary arbeitet seit über drei Jahrzehnten als Nahost-Korrespondent der taz mit Sitz in Kairo und bereist von dort regelmäßig die gesamte Arabische Welt. Daneben leitet er seit 2004 das ORF-Fernseh- und Radiostudio in Kairo. 2011 erhielt er den Concordia-Journalistenpreis für seine Berichterstattung über die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, 2013 wurde er von den österreichischen Chefredakteuren zum Journalisten des Jahres gewählt. 2018 erhielt er den österreichischen Axel-Corti-Preis für Erwachensenenbildung: Er hat fünf Bücher beim Verlag Kremayr&Scheriau veröffentlicht. Alltag auf Arabisch (Wien 2008) Tagebuch der Arabischen Revolution (Wien 2011) Frauenpower auf Arabisch (Wien 2013) Auf der Flucht (Wien 2015) Repression und Rebellion (Wien 2020)

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.