Israelischer Holocaustgedenktag: Dissidenten im Geiste

Israel gedenkt der Opfer des Holocaust mit zwei Schweigeminuten. Das Land steht still. Einigen Linken aber ist nicht wohl dabei.

Zwei Minuten Stillstand in Jerusalem. Bild: Imago/UPI Photo

Eine Sirene ertönt, legt einen hohen, metallischen Ton über die lärmenden Straßen Tel Avivs. Die Menschen auf den Straßen bleiben stehen, auf den Autobahnen fahren Busse und Lastwagen an den Straßenrand. Für zwei Minuten steht Israel still. Nur einer bewegt sich auf seinem Fahrrad durch die eingefrorene Szenerie, fährt im Slalom an den Menschen vorbei. Es ist 11 Uhr morgens am Yom HaShoah, dem israelischen Holocaustgedenktag – und einer macht nicht mit.

Diese Szene hat so nie stattgefunden, sie ist ein Gedankengespinst. Tomer Gardi, ein israelischer Politaktivist und Schriftsteller, hat sie mir zwischen Bier und Zigarettenrauch erzählt. Ihn reize dieses Bild der Dissidenz, sagt er. Ich aber war fassungslos.

Zynisch und respektlos gegenüber den Opfern der Schoah und den Überlebenden erschien sie mir. Gardi war anderer Meinung – so wie viele andere zionismuskritische linke Israelis, die nicht mit der staatlichen Gedenkpolitik ihres Staates einverstanden sind.

Berlin-Tel-Aviv-Connection

Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen deutschen und israelischen Linken und eine ausgeprägte Berlin-Tel-Aviv-Connection, aber wenn es um die Schoah geht, prallen zwei Erzählungen aufeinander, die nicht in Einklang zu bringen sind. Dieser Moment, an dem die Erzählungen wie auf unterschiedlichen Weichen auseinanderlaufen, lässt mich nicht los. Also mache ich mich auf die Suche, um eine gemeinsame Sprache zu finden.

Gardi empfängt mich in seiner Wohnung in Tel Aviv. Er trägt ein drachenbesticktes Jackett, hat seine lockigen Haare zusammengebunden und führt mich zum offenen Wohnzimmerfenster: „Von hier aus beobachte ich die Straße, wenn die Sirene losgeht“, sagt er. Zweimal ertönt die Sirene am Holocaustgedenktag und noch einmal eine Woche später am Yom HaZikaron, dem Gedenktag für die jüdisch-israelischen Gefallenen der Kriege.

Die bedrückende Stimmung dieser Tage wird am 5. Mai schließlich abgelöst von der fröhlichen Ausgelassenheit des Unabhängigkeitstages. Die PalästinenserInnen indes gedenken zur gleichen Zeit der Nakba – der sogenannten Katastrophe, der Vertreibung der PalästinenserInnen um 1948. Gardi sind diese Wochen unangenehm.

Als Herausgeber einer Zeitschrift der israelischen NGO Zochrot hat er mehrere Jahre versucht, die palästinensische Wahrnehmung von 1948 im jüdisch-israelischen Bewusstsein zu verankern. Ich will wissen, was genau ihn am Holocaustgedenktag stört. Er zieht an seiner Zigarette, bläst den Rauch aus: „Ich mag den Tag nicht“, sagt er, „weil er nichts zu tun hat mit denjenigen, die gestorben sind oder überlebt haben.“

Der Historiker Moshe Zimmermann von der Hebrew-Universität Jerusalem sitzt in Hemd und Sportschuhen in seinem Wohnzimmer. Bei der Schilderung der Fahrradszene wiegt er den Kopf hin und her: „Es ist sein gutes Recht, individuell darüber zu entscheiden“, sagt er: „Allerdings – obwohl ich sehr für die individuelle Auseinandersetzung bin – ich werde stehen bleiben, wenn ich draußen unterwegs bin. Die Leute würden es nicht als Widerstand gegen aufoktroyiertes Gedenken verstehen, sondern als Leugnung der Schoah.“

Instrumentalisierung von Geschichte

Zimmermann ist Sohn Hamburger Juden, die Ende der 1930er Jahre nach Palästina emigriert sind. Er beschäftigt sich mit Antisemitismus und deutsch-israelischen Beziehungen. Instrumentalisierung von Geschichte gebe es immer und überall, sagt er. Sie diene dazu, Vergangenheit zu verstehen, vielleicht auch nationale Ziele zu verfolgen. „Man muss aber sagen, dass Israel diese Instrumentalisierung sehr radikal betreibt und die Schoah zum Instrument wird, alles zu rechtfertigen, was im Namen des Staates geschieht. Das beinhaltet auch das Unrecht, das wir den Palästinensern antun.“

Auch Lilach Ben David steht bei der Sirene am Yom HaShoah. Nur am letzten Gedenktag für die Gefallenen lief sie mit Einkaufstaschen in der Hand einfach weiter, als alle um sie herum verharrten. Die anderen warfen ihr strafende Blicke zu. Fast jeden Abend sitzt die junge Frau im Albi, einem Café und Treffpunkt für Queers und PolitaktivistInnen.

„Es ist nicht der Tag selber, der mich stört“, sagt sie: „Die Schoah ist ein wichtiger Teil der israelischen Geschichte.“ Es sei wichtig, an sie zu erinnern. „Aber diese Geschichte darf nicht missbraucht werden, um die Besatzung zu rechtfertigen – und genau das passiert. Von 0 Jahren an bist du den Bildern von Leichenbergen ausgesetzt, bei der Zeremonie stehst du, sobald du überhaupt stehen kannst. In den Reden Netanjahus wird die Schoah als immer drohende Gefahr wachgerufen – und es ist sicherlich kein Zufall, dass SchülerInnen ausgerechnet kurz vor dem Militärdienst in organisierten Fahrten in ehemalige Konzentrationslager nach Polen fahren. Die Schoah wird als Bedrohung aufgebaut, die jederzeit wieder Wirklichkeit werden kann.“

Asaf Angermann lehnt an seinem Schreibtisch in einem Büro der Hebräischen Universität in Jerusalem. Das große Balkonfenster hinter ihm gibt den Blick frei auf die Mauer, die quer durch Jerusalem verläuft. „Ja“, sagt der israelische Philosoph: Das Gefühl, dass der Holocaust sich jederzeit wiederholen kann, sei verbreitet. Das habe aber nichts mehr mit dem tatsächlichen Holocaust zu tun. „In der offiziellen Gedenkkultur geht es nicht darum, das Trauma des Holocaust zu heilen, sondern darum, es am Leben zu halten“, sagt er. „Der Staat hat sich dieses Trauma zur Basis gemacht, um eine Politik zu legitimieren, die zu solchen Grausamkeiten führt wie dieser Mauer hier.“ Er blickt aus dem Fenster und zeigt auf die Sperranlage, die Israel vom Westjordanland trennt.

Störendes kollektives Ritual

Dieses Argument kenne ich von Gardi, dem Freund aus Tel Aviv. Aber ihn stört noch etwas – das kollektive Ritual selbst. „Ich glaube“, sagte er bei unserem Gespräch und blickt nachdenklich ins Leere: „Nationalismus geht durch den Körper. Gemeinsame Handlungen, die Hymne singen, gemeinsam stehen – das kreiert nationalistische Gefühle. Und die brennen sich in deinen Körper. Das macht es so tief und so wirksam.“

Ich gleiche das Gehörte mit meinen eigenen Erfahrungen ab, denke an die schwarz-rot-goldenen Fahnen in Deutschland, die bei jeder WM mehr werden und mir einen Schauer über den Rücken jagen. Aber Antinationalismus heißt in Deutschland etwas anderes als in Israel. Wenn in Berlin ein Rabbiner mit Kippa auf der Straße zusammengeschlagen wird, wenn 20 Prozent der europäischen Bevölkerung latent antisemitisch eingestellt sind, dann ist eine Erinnerung an die Schoah dringend notwendig. „Weniger Schoah“ zu fordern erscheint absurd.

Ich frage Angermann, ob ihm unwohl dabei ist, seine Äußerungen in einer deutschen Zeitung zu lesen. „Ja“, sagt er und nickt mehrmals. Er hat in Frankfurt promoviert und kennt den deutschen wie den israelischen Holocaustdiskurs: „Große Sorge habe ich. Wenn ich als Israeli diese Kritik übe, denken die Deutschen: ’Ah, der Holocaust ist schon vergessen.‘ Eine Schlussstrichdebatte will ich nicht befördern. Außerdem wird Kritik an Israel von außen oft undifferenziert vorgenommen, ohne die alltägliche Lebensweise zu kennen.“

Suche nach einer Gedenkkultur

Die alltägliche Lebensweise kennenzulernen – dies scheint der Dreh- und Angelpunkt auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache zu sein. Denn die Fragen und Zweifel der Linken in Israel und Deutschland sind sich – bei aller Zersplitterung – gar nicht so unähnlich: Es geht beiden Seiten um die Suche nach einer Gedenkkultur, die nicht staatspolitischen und nationalistischen Zwecken dient. Vermutlich werden die verschiedenen Erzählungen nicht in absehbarer Zeit zu einer werden, vielleicht müssen sie das auch nicht. Aber es lohnt sich, noch einen Blick auf eine dritte Erzählung zu werfen – auf die von FlüchtlingsaktivistInnen in Israel.

Sie planen an diesem Tag eine Zeremonie am Saharonim-Gefängnis in der Negev-Wüste, in dem zahlreiche Flüchtlinge inhaftiert sind. In ihrem Aufruf schreiben sie: „Alle Menschen, insbesondere Juden, die Verfolgung erfahren haben, können ihren Blick nicht abwenden, während unschuldige Flüchtlinge eingesperrt werden.“ Wenn die Sirene ertönt, werden die AktivistInnen stehen, so wie fast alle anderen in Israel. Und der metallische, hohe Klang wird dabei die unterschiedlichsten Gedanken begleiten.

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