Besuch im ukrainischen Revolutionsstab: Die Gestrandeten vom Maidan

Pascha, Witja und Elizaweta haben auf dem Maidan gekämpft und wollen ausharren. In ihr altes Leben können oder möchten sie nicht zurück.

Reste von Barrikaden, Blumen und Lichter für die Toten und ein Hauch von Frühling: der Maidan in Kiew am 5. April 2014. Bild: reuters

Männer in Uniform sitzen vor abgenutzten Barrikaden, rauchen gelangweilt eine Zigarette und machen gelegentlich Platz für kleine Gruppen weiterer Uniformierter, die das Gebäude verlassen oder betreten. Das Kiewer Stadtparlament, nach der ersten Schlacht auf dem Maidan von nationalistischen Svoboda-Anhängern zum Revolutionsstab umfunktioniert, ist noch immer einer der wichtigsten Orte der Protestbewegung.

Unbekannte werden unfreundlich angepöbelt, bevor sie sich erklären können. Gute Manieren gehen in einer Revolution wohl verloren, aber immerhin bewachen die Männer den Revolutionsstab und keinen Vergnügungspark. Erst wenn die Besucher glaubhaft erklärt haben, dass sie nicht aufseiten der russischen Medien stehen, dürfen sie das Gebäude betreten. In Begleitung, versteht sich.

Pascha* kommt aus Luhansk, einer Stadt an der russischen Grenze im Südosten des Landes. Er ist 30, ordentlich angezogen und freundlich, aber betrunken. Der Alkohol wird langsam zum Problem des Maidan, trotz Vereinbarungen, die den Alkoholkonsum verbieten. Wer trinkt, wird aggressiv und greift schneller zur Waffe; bei so vielen jungen, von den Kämpfen aufgeheizten Männern kommt es leicht zu Auseinandersetzungen.

Immer wieder fragt Pascha, was man denn in Europa vom Maidan höre – und vom Revolutionsstab. „Die Russen erzählen herum, dass wir hier wie Schweine leben“, sagt Pascha und führt die Besucher in eine große, prunkvolle und saubere Halle. „Alle zusammen haben wir diese Säulen geschrubbt, alle Fenster repariert“, sagt er. Nach den Kämpfen mit den Sicherheitskräften in der Nacht zum 1. Dezember wurde das Kiewer Stadtparlament zum Zufluchtsort für Hunderte von Kämpfern, Sanitätern und friedlichen Demonstranten. Sauberkeit war das oberste Gebot, Vandalismus strengstens verpönt.

Die Revolution hatte auch im Kern ihren eigenen Prinzipien zu entsprechen – Volkseigentum zu zerstören und verdreckt zurückzulassen gehört nicht dazu. Wenn heute noch etwas zerstört wird, dann von den Nationalisten. Aber die Svoboda-Partei und der Rechte Block haben mittlerweile anderswo ihre Zelte aufgeschlagen; der Revolutionsstab gehört keiner Partei mehr an, keiner Bewegung.

Alle sind willkommen

Was ganz am Anfang geschah, kennt auch Pascha nur aus dem Fernsehen. Erst seit Februar ist er auf dem Maidan. Seit dem 19. Februar, genauer gesagt. Am 18. hatte die zweite, mehrere Tage andauernde Welle gewaltsamer Auseinandersetzungen begonnen, die eine neue Generation von Kämpfern und Demonstranten auf den Maidan brachte. Die ersten Tage waren furchtbar, erzählt Pascha. Nie im Leben habe er so viel Angst gehabt wie beim Anblick bewaffneter Spezialeinheiten, die zu Hunderten den Maidan stürmten, begleitet von Berichten über Scharfschützen, bezahlte Schläger und Polizeifolter.

Er erinnert sich an ein Mädchen vom Roten Kreuz, das weinend hinter einer kleinen Barrikade kauerte, nur wenige Meter entfernt von kämpfenden Polizisten. Zusammen mit einem Freund trug Pascha sie weg und versuchte, sie zu beruhigen, während er selbst vor Angst zitterte. Die junge Frau habe ihm dafür ihren Schal geschenkt. Aber wo der hingekommen ist, weiß er nicht. Die Revolution gibt, die Revolution nimmt.

Im zweiten Stock über der großen Halle schlafen die Hausbesetzer auf Isomatten und Schlafsäcken. Tagsüber sind es an die fünfzehn, zwanzig Leute, nachts bis zu hundert. Ob jemand hier wirklich wohnen oder nur gelegentlich der Kälte entkommen will, spielt keine Rolle. Alle sind willkommen. Hier lässt Pascha seine Gäste allein, damit auch andere mit den Ausländern sprechen können. Während Pascha sich mit einem angeblichen „Sotnik“, einem Anführer einer Hundertschaft, unterhält, macht Elizaweta die Runde. Die 50-jährige, müde aussehende Frau ist Ärztin aus Weißrussland.

Wie Pascha ist auch sie seit dem 19. Februar auf dem Maidan dabei. Im Fernsehen hatte sie die Kämpfe verfolgt, und als die Gewalt eskalierte, packte sie ihre Sachen und fuhr nach Kiew. Die ersten Tage auf dem Maidan verbrachte sie im provisorischen Lazarett im Hotel Ukraine. „Meine erste 72-Stunden-Schicht“, sagt sie zynisch. Dutzende von Leicht- und Schwerverletzten mussten versorgt, in Krankenhäuser gebracht oder wieder kampftauglich gemacht werden. „Wir wussten ja nicht, wann es mit dem Schießen wieder losgeht. Da wollte sich niemand drücken“, berichtet Elizaweta. Sie bedauert, dass Ähnliches in Minsk undenkbar ist. „Aber die Weißrussen und Ukrainer sind Brüder. Eure Revolution ist unsere Revolution.“

„Wofür demonstriert du eigentlich?“

Doch die Revolution ist eigentlich schon vorbei. Es sind auch nicht die Hartgesottenen, die noch auf dem Maidan sind. Die Demonstranten der ersten Stunde, der Dezember- und Februarkrawalle, sind schon seit Wochen zu Hause, arbeiten und versorgen ihre Familien. Übrig geblieben sind die, die nicht zurückkönnen. Oder nicht wollen. Für viele wurde der Maidan zu einem Zuhause. Sie fanden Freunde, hatten plötzlich Macht und Stärke.

Mehr noch, sie hatten ein Ziel, einen Feind, ein Gut und ein Böse. Die Berkut-Einheiten waren der Feind, befehligt von Präsident Janukowitsch, dem Teufel höchstpersönlich. Das einte den Maidan und gab den Menschen einen Sinn. Doch jetzt, da undurchsichtige Politiker versuchen, eine instabile Übergangsregierung heil bis zu den Wahlen zu manövrieren, sind die klaren Linien plötzlich weg und damit auch die Notwendigkeit, auf dem Maidan zu bleiben. Wohin Pascha jetzt gehen sollte, weiß er nicht.

Warum er noch da ist, schon eher. Erst letzte Woche hat ihn seine Frau angerufen, die mit seiner kranken Tochter in Luhansk lebt. „Wofür demonstrierst du eigentlich?“, schrie sie ihn am Telefon an. Auf diese Weise erfuhr er, dass es im Kindergarten seiner Tochter nun kein Essen mehr gibt. Die Staatskassen sind leer, die Generalmobilmachung kostet Geld.

Auf dem Maidan gibt es viele Menschen wie Pascha. Menschen, denen politische Ideen fremd sind und die für sich und ihre Familien demonstrieren. Wenn Pascha davon erzählt, was er erreichen will, klingt er wie ein Träumer. „Ich will, dass Menschen sagen können, was sie denken. Dass jedes Kind in Freiheit aufwächst und Chancen hat; dass ich auf die Straße gehen kann, ohne Angst zu haben.“

Prügel sind zu befürchten

So oder so ist es schwer, zurückzukehren. In Luhansk ist der Maidan nicht beliebt, ist als faschistisch und antirussisch verschrien. Man würde ihn gleich bei der Ankunft verprügeln, sagt Pascha. Angst hat er nicht, immerhin schmückt eine Bissnarbe seine Hand, die vom Nahkampf mit dem Berkut geblieben ist. „Da hatte ich Angst, aber ein paar Schläge in Luhansk …“, das sei wirklich nichts, wovor ein Revolutionär sich fürchten müsse. „Ein Leben ist das trotzdem nicht“, meint er.

Wie Pascha geht es vielen Aktivisten. Der Großteil der Besetzer kommt aus allen Teilen der Ukraine. Wer nach Lviv oder Riwne zurückmuss, den erwarten keine Schläge; in Donezk und Charkiw dagegen sieht das anders aus.

Pascha ist jung, er wird es schon irgendwie schaffen. Sein Freund Witja, einer der älteren Kämpfer im Revolutionsstab, wird auch in der neuen Ukraine womöglich untergehen. Er sitzt im dritten Stock des Stabs und bewacht die Straßen. Tagsüber ist nicht viel los, aber wenn er nachts Alarm schlägt, versammeln sich hundert Männer und Frauen vor dem Eingang, um eine Stürmung des Gebäudes abzuwehren. Nur erfahrene Soldaten und Polizisten tragen auf dem Maidan so viel Verantwortung wie Witja.

Rente ausgesetzt

Witja stammt aus einem Ort nahe der ungarischen Grenze, auch er ist für seine Familie hier, dafür, dass es ihnen sozial besser geht. Mit Freunden war er oft in Ungarn. Einfach so, zum Biertrinken. „Es ist gut, wenn man sich besucht“, sagt er. Er will Ungarn auch weiter besuchen dürfen und am liebsten ganz Europa. Das ist ein schönes Ziel von Witja – aber weit weg. Wie er weiterleben wird, steht in den Sternen. Als Militärtaucher arbeitete er jahrelang in Russland, bis ihn eine schwere Beinverletzung außer Gefecht setzte. Die Rente von umgerechnet 650 Euro, die er vom russischen Staat bekam, wurde ausgesetzt. Was übrig bleibt, sind 250 Euro, bestehend aus dem Gehalt seiner Frau und seiner Sozialhilfe. Überleben kann man damit in der Ukraine, Perspektiven hat man nicht.

„Meine alte Mutter zwingt mich, Geld von ihr zu nehmen. Und ich habe ja keine Wahl, seit die Russen nicht mehr zahlen“, sagt Witja und fragt nach ein paar kleinen Scheinen für eine neue Rasierklinge. Seine hat er den jungen Männern gegeben, die ihre Sachen nicht beisammenhätten. Am Anfang haben sie von dem müden Krieger, wie er sich nennt, nichts hören wollen. „Erst als die ersten Schüsse fielen, standen sie vor mir, mit ihren großen Augen“, erzählt Witja liebevoll. Seine „Jungs“ haben mittlerweile gelernt, dass es im Krieg Hierarchien gibt. Krieg, so nennen sie die Kämpfe mit der Polizei auf dem Maidan.

Der Krieg ist vorbei, aber bleiben wollen sie bis zum Schluss. Wann Schluss ist, worin er besteht, weiß niemand. „Zumindest bis zu den Wahlen“ wollen sie bleiben, sagen sie. Bis Ende Mai also wird die Übergangsregierung ständig auf den Maidan schielen müssen, bevor sie Renten, Beamtengehälter und Sozialleistungen kürzt. Denn wo die Kassen leer sind, können auch die ehrlichsten Politiker kein Geld herbeizaubern.

Aber es warten noch mehr Herausforderungen auf Politiker und Maidan-Bewohner. Besetzte Hotels und Restaurants müssen geräumt werden, auch der Revolutionsstab wird früher oder später dran glauben müssen. Dann werden Pascha, Witja und Elizaweta nach Hause gehen müssen, wo es keinen Feind mehr gibt und keine Revolutionsromantik. Schon jetzt sind Psychologen auf dem Maidan unterwegs, um eine Resozialisierung der Kämpfer und Besetzer einzuleiten. Doch in vielen wird der ukrainische Winter des Jahres 2014 noch lange weiterleben.

*Alle Namen geändert

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.