Bibliotheks-Besuch VI: Im Adressrausch

Mit Bit und Byte gegen die Zeit: Die Hamburger Staats- und Universitäts-Bibliothek ist ein Hotspot der Digitalisierung.

Die Hand eines Helden der digitalen Basisarbeit: Marc Rögener scannt Danielis Georgi Morhofi - einen von 1.500 ausgewählten Werken des 17. Jahrhunderts. Bild: Henning Bleyl

Büchereien demokratisieren das Wissen – aber gibt ihnen die Wissensgesellschaft dafür auch die notwendigen Mittel? Strengen sie sich selbst genug an, um aktuelle Kommunikationsräume zu bleiben? Die taz.nord-Serie „lesen und lesen lassen“ sucht nach Antworten, vor Ort in acht Stationen (zweite Staffel).

Das Lesen von Telefonbüchern gilt als langweilig. Als Synonym für sinnfreie Beschäftigung. In der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek sind sie nichtsdestoweniger das meist genutzte Medium.

Was sagt das über die Hamburger – und deren Bibliothek – aus? Dass sie beim Digitalisieren auf die richtige Strategie setzen. 1,2 Millionen Zugriffe auf die ins Netz gestellten Adress- und Fernsprechbücher verzeichnete der Bibliotheksserver 2013. „Das ist die mit Abstand größte Nachfrage“, sagt Jürgen Christof, Leiter der Hauptabteilung Digitales. Was früher nur vor Ort als Rollfilm einsehbar war, ist nun frei verfügbar. Die Originale sind physisch schon länger nicht mehr nutzbar.

Wer sich nun in die historischen Tiefen des Hamburger Adress-Universums einklickt, hat Zugriff auf derzeit 465.000 eingescannte Seiten. Von 1787 bis 1966 ist hier Jahr für Jahr jede Hamburger Adresse erfasst, bis 1970 die Telefonnummern. Dazu kommen etliche Jahrgänge vom Beginn des 18. Jahrhunderts, der älteste Teil ist das „Hamburger Gelehrtenverzeichnis“ von 1698.

Hamburgs älteste Kultureinrichtung

Mit 4,5 Millionen Medien ist die Staats- und Universitätsbibliothek "Carl von Ossietzky" Hamburgs größte wissenschaftliche Allgemeinbibliothek. Ihre ältesten Medien sind 5.000 Jahre alte assyrische Tontäfelchen, der jährliche Zuwachs allein an Printmedien umfasst anderthalb Regalkilometer. Seit 1696 erhält die Bibliothek ein Pflichtexemplar von jedem in Hamburg gedruckten Werk.

Obwohl 80 Prozent des Gesamtbestands 1943 verbrannten, besitzt das Haus heute 88.715 Handschriften und Autographe, unter den gedruckten Werken gelten 49.806 als "Rara". Die Bibliothek gilt als älteste kulturelle Einrichtung der Stadt, weil sie die Bestände der 1479 gegründeten Ratsbibliothek besitzt, dazu kommt die Schulbibliothek des Johanneum von 1529. Die Universität selbst wurde erst 1919 gegründet.

Laut Stellenplan sind 236 MitarbeiterInnen für die Pflege und Bearbeitung all dieser Medien zuständig. Besetzt sind davon derzeit allerdings nur 189 Stellen.

Wer sich hier genau für was interessiert, weiß nur die NSA. Aber auch Christof kann den IP-Adressen entnehmen, dass in allen Ecken der Welt das Hamburger Adressbuch studiert wird: „Wir haben sehr viele Kontaktaufnahmen aus den USA und Australien.“ Wobei Ahnenforschung allein wohl kaum 1,2 Millionen Zugriffe generiert. „Ich weiß nicht“, sagt Christof, „was die Leute treibt.“

Was die Hamburger Digitalisierungs-Offensive von denen anderer Bibliotheken unterscheidet, ist die hervorragende Nutzbarkeit der Digitalisate im Netz. Anders gesagt: die große Mühe, die sich die BibliothekarInnnen bei der Erschließung des Materials geben. Von jeder Seite der Adressbücher ist der jeweils erste alphabetische Eintrag manuell erfasst – sonst wäre ein zielgenauer Zugriff nicht möglich. In Zeiten der Volltext-Suche ist das deshalb erforderlich, weil die Buchstaben zu klein und verwaschen sind, um präzise automatisierte Treffer zu ermöglichen.

Wie aber kommen solche Unmengen an historischen Seiten überhaupt ins Netz? Indem sie zum Beispiel durch die Hände von Marc Rögener gehen. Der Mitarbeiter der Medienwerkstatt sitzt vor einem rund 30.000 Euro teuren Scanner, vor sich ein fleckiges Bändchen mit stark vergilbten Seiten. Was er da gerade in Arbeit hat? „Da muss ich selber mal gucken“, sagt Rögener, und entziffert das Titelblatt: „De Patavinitate Liviana Liber von Danielis Georgi Morhofi, 1684“. Morhof, einer der Begründer der Allgemeinen Literaturgeschichte, hätte sich für seine Weiterverarbeitung auf dem Scanner sicher brennend interessiert – als Kieler Oberbibliothekar hatte er mit dem Erhalt seiner Folianten selbst erhebliche Mühen.

Der Morhof-Band gehört zu einem Konvolut von 1.500 Drucken des 17. Jahrhunderts, das die Bibliothek bis Ende des Jahres elektronisch erfasst haben will. Dann, so sagt der Digitalisierungs-Fahrplan, ist das 18. Jahrhundert dran. Aber auch in Richtung Vergangenheit ist noch reichlich Luft: Derzeit bereite er die Digitalisierung von 1.000 altägyptischen Papyri vor, sagt Ulrich Hagenah, der neben den Hamburgensien auch die ethnologischen Sammlungen der Bibliothek betreut. Rögener ist derweil auf Seite 115 von „De Patavinitate“ angekommen. Was immerhin die Hälfte ist.

Seit 1995 surren in der Hamburger Bibliothek die Scanner. Mittlerweile gibt es Modelle, die den bionischen Zeigefinger zum Umblättern selbst mitbringen. Aber die kommen nur zurecht, wenn die Bindung nicht zu eng ist. Außerdem muss die Papierqualität sehr konstant sein. „Andernfalls braucht man eben doch Menschen mit Fingerspitzen-Gefühl“, sagt Christof. Und mit Geduld.

Und die Geschwindigkeit? Scan-Roboter sollen 1.500 Seiten pro Stunde schaffen. Christof hält das jedoch für „einen typischen Hersteller-Wert“. Die Erfahrung zeige: „Wenn die Geräte stündlich 800 Seiten verarbeiten, ist das ein guter Schnitt.“ Was Rögener im Übrigen auch hinbekommt – und dabei bemerkenswert zufrieden wirkt.

„Wir setzen auf Klasse statt Masse“, sagt Christof selbstbewusst. Es gibt durchaus auch andere Digitalisierungs-Strategien: Die Bayerische Nationalbibliothek beispielsweise profiliert sich durch die Zusammenarbeit mit Google. Gemeinsam bemüht man sich um die Erfassung von einer Million Anthologien des 18. und 19. Jahrhunderts. Allerdings ohne spezifische Erschließung, sondern zum digitalen Durchblättern. Morhofs „De Patavinitate“ haben die Münchener übrigens auch gescannt. „Doppelungen lassen sich leider nicht immer vermeiden“, kommentiert Christof.

Rögeners Kollegin hat nun eine großformatige historische Hamburg-Karte in den Fingern, sie sitzt an einem Spezialgerät, für das die Bibliothek 100.000 Euro investiert hat. „Digitalisierung ist ein teures und aufwendiges Geschäft“, sagt Christof. Vom Projekt-Status habe sie sich nun gelöst und sich als „ein Kerngeschäft des bibliothekarischen Alltags“ etabliert. Diese neuen Schwerpunktsetzungen mitsamt Stellenumwidmungen zugunsten der Digitalisierung sind für einige Mitarbeiter durchaus gewöhnungsbedürftig.

Im Raum steht die Frage: Taugen Digitalisate tatsächlich zur dauerhaften Archivierung? Bei Experten ist das umstritten. Bislang galt Mikroverfilmung als Mittel der Wahl, Christof setzt auf einen Mix: „Man kann sich nicht zuverlässig auf ein einziges Verfahren verlassen.“ Deswegen würden in seinem Haus sowohl Digitalisate ausbelichtet als auch Mikrofilme gescannt.

Neben dem Digitalisierungs-Fahrplan haben die Hamburger einen „Masterplan Entsäuerung“. Je höher der Holzanteil im Papier, desto verheerender sind die chemischen Prozesse, die ein alt gewordenes Buch von innen her zerfressen. Um fit für den Scanner zu sein, muss ein Druck oftmals zuerst in die Entsäuerung – was pro Werk mit 15 bis 20 Euro zu Buche schlägt. Jährlich stehen dafür 800.000 Euro zur Verfügung. Eine Größenordnung, wie sie auch für die Digitalisierung investiert wird.

Doch während die Massenentsäuerung bis ins Erscheinungsjahr 1990 schon weitgehend abgeschlossen wurde, ist die Welt der Digitalisierung noch voller Neuland. Das späte 19. und das gesamte 20. Jahrhundert seien sogar „digitales Niemandsland“, sagt Christof. Das liegt nicht nur an Kapazitätsgrenzen. Sondern auch am Urheberrecht, das sich erst Anfang des Jahres gelockert hat. Bis dahin waren „verwaiste“ Werke, deren Verfasser oder Erben nicht ausfindig gemacht werden können, grundsätzlich von der Digitalisierung ausgeschlossen. Der Deutsche Bibliotheksverband musste lange für seine Forderung kämpfen, „auch diese verborgenen Schätze in die digitale Welt überführen zu dürfen“. Nun dürfen die Bibliotheken – und müssen sich die dafür erforderlichen Mittel suchen.

Noch sind die Adress- und Fernsprechbücher das unangefochtene Flaggschiff der Hamburger Elektronik-Offensive. Eine ähnliche Dimension könnte demnächst jedoch die Digitalisierung von acht historischen Hamburger Zeitungen bekommen. Fünf Millionen Seiten sollen ins Netz, die ersten 2,5 Millionen noch dieses Jahr, ausgestattet mit komfortablen Suchfunktionen. Nicht wenige Wissenschaftler warten mit ihren Forschungsprojekten bereits auf die Freischaltung – und auch hier ist ein ähnlich durchschlagender Überschneidungs-Effekt wie bei den Adressbüchern zu erwarten: Normalbürger und Fachleute stürzen sich auf denselben Stoff.

Daher wäre das EU-geförderte Zeitungsprojekt eigentlich ein Fall für ergänzendes Crowd Funding. Schon für die 465.000 Adressbuch-Seiten haben die Bibliothekare passende Sponsoren gefunden: Die in Utah/USA sitzende Genealogical Society – und die Gesellschaft für Erbenermittlung mbH.

Nächste Folge: Das zähe Ringen der Bremer Stadtbibliothek um die Sonntags-Öffnung
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