Kolumne Besser: Debatte ohne Widerworte

Mit dem Verweis auf Kinder darf man Dinge tun, die man sich sonst verkneift: Das Internet zensieren oder Muslimen mal ordentlich die Meinung geigen.

Es geht ja nicht um Kinder. Eigentlich. Bild: dpa

Die Kinder, die Kinder, die armen kleinen Kinder. Wer irgendeine Schikane im Sinn hat, ist gut beraten, sie mit dem Wohl von Kindern zu rechtfertigen. So wollte Ursula von der Leyen das Internet bändigen, ihrem Beispiel folgend verteidigt die türkische Regierung – auch nicht ganz doof – ihr Gesetz zur Internetzensur als Kampf gegen Kinderpornos.

Die Einsicht, dass Kinder eines besonderen, notfalls mit Zwangsmitteln durchzusetzenden Schutzes bedürfen, droht zur universellen Verbotsbegründung zu werden. Oder Edathy, der Mann, der mit Vornamen inzwischen „Fall“ oder „Causa“ heißt wie sich weiland Mehdorn den Vornamen „Bahnchef“ erwarb, und dessen bürgerliche Existenz von einer Staatsanwaltschaft vernichtet wurde, die zwar Moralismus, aber keinen Anfangsverdacht auf strafbare Handlungen vorzuweisen hatte.

Oder die grüne Partei, die mit derselben Inbrunst mal dieses fordern, mal jenes tun konnte und mit allem durchkam, nur nicht mit einem über 30 Jahre alten Kommunalwahlprogramm – von der Katholischen Kirche ganz zu schweigen.

Mögen die Fressen von der NPD außerhalb ihrer ostzonalen Browntowns den Anschluss verloren haben, mit ihrer Forderung „Todesstrafe für Kinderschänder“ dürfen sie sich Avantgarde fühlen. Gerade weil dieser Diskurs ohne Kontrahenten stattfindet (Bildchen gucken, Kinder missbrauchen, alles Täter) und sich sein Gegenstand nicht gegen Bevormundung wehren kann (sind ja nur Kinder), wäre ein gewisses Maß an Maßhaltung geboten. Doch es passiert das Gegenteil.

Moralischer Distinktionsgewinn

Mit dem Verweis auf Kinder darf man sogar Dinge tun, die man sich sonst verkneift, zum Beispiel Juden und Muslimen mal ordentlich die Meinung geigen, weil sie ihre Söhne – alles Kinder, kleine Kinder, gar kleine Kleinkinder! – einem religiösen Brauch folgend um ein Stück Vorhaut bringen. Auch das Ressentiment gegen Homosexuelle wird wieder diskutierbar, sofern es nur – der Dingsda hat es neulich gezeigt – irgendwie mit Kindern in Verbindung gebracht wird. („Igittigitt. Und nicht mal Kinder kriegen die!“)

Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis jemand auf die Idee kommt, Lolita und Julia um einer paar Jahre altern zu lassen, so wie man – ebenfalls aus Rücksicht auf die Kinder – bei Pippi Langstrumpf und der Kleinen Hexe ein paar editorische Eingriffe unternommen hat. Dabei finden dieselben Leute, die nun Sebastian Edathy für den Gert Fröbe vom Bundestag halten, einen Kindergarten in ihrer Nachbarschaft so attraktiv wie ein Asylbewerberheim oder eine Mülldeponie.

Es geht ja nicht um Kinder. Es geht um das, was man in sie hinein projiziert. Nirgends ist moralischer Distinktionsgewinn so billig zu haben wie in dieser Debatte ohne Widerworte. Doch das Kinderargument ist nicht nur Vorwand.

Die Parvenühaftigkeit, mit der die spätgebärende Mittelschicht sich um die eigene Brut kümmert („Das Kacka von Heinrich-Otto ist manchmal ganz hart“ – „Das von Sophia-Lena auch.“), droht zum Maßstab für eine Gesellschaft zu werden, die – siehe die groteske Diskussion um das Stechen von Ohrlöchern – aus dem Wunsch, Kinder zu schützen, anscheinend alles dafür tun will, ihrem Nachwuchs einen gehörigen Dachschaden zu verpassen.

Besser: Man hält Maß. Der Kinder willen, logisch.

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Von Juli 2007 bis April 2015 bei der taz. Autor und Besonderer Redakteur für Aufgaben (Sonderprojekte, Seite Eins u.a.). Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2011. „Journalist des Jahres“ (Sonderpreis) 2014 mit „Hate Poetry“. Autor des Buches „Taksim ist überall“ (Edition Nautilus, 2014). Wechselte danach zur Tageszeitung Die Welt.

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